Lévinas lehrte die bedingungslose Hinwendung zum "Anderen". Nach dem Grauen von Auschwitz plädierte Levinas, der zwischen jüdischer Tradition und griechischer Philosophie stand, für einen "extremen Humanismus" und eine Philosophie der Begegnung. Für Lévinas beginnt das philosophische Denken mit der "Ethik als Erster Philosophie". Schlüssel zur sittlichen Verpflichtung ist für ihn die Gestalt des "Anderen" und die "Begegnung mit dem Anderen". Sie erst eröffnet – wenn überhaupt – einen Zugang zur "Herrlichkeit des Unendlichen". Mit seinem Denken entfaltete der jüdisch-litauische Philosoph, der 1930 Franzose wurde, eine nach wie vor an Bedeutung gewinnende Wirkungsgeschichte. Dazu passen die neuen Debatten über Religiosität und Transzendenz. Das Grauen der Judenvernichtung hat der am 12. Januar 1906 in Kaunas geborene Lévinas, der als 17-Jähriger mit dem Bewusstsein eines "Europäers" nach Frankreich gezogen war, selbst erfahren. Während des Zweiten Weltkriegs geriet er in deutsche Gefangenschaft und überlebte in Lagern für jüdische Kriegsgefangene; ausser seiner Frau und einer Tochter wurde fast die ganze Familie in der Schoa getötet. Seine Biografie sei "beherrscht von der Vorahnung und der Erinnerung des Nazi-Schreckens", sagte Lévinas einmal selbst. Der Philosoph, der stets auch die deutsche Sprache verwendete, legte nach der Schoa den Schwur ab, nie mehr nach Deutschland zurückzukehren. Als er 1983 den Karl-Jaspers-Preis erhielt, nahm für ihn ein Sohn in Heidelberg die Auszeichnung entgegen. Die Absage galt dem Land, nicht den Menschen: Immer wieder trafen deutsche Wissenschaftler und Studenten Lévinas in Paris, Strassburg oder der Schweiz und diskutierten mit ihm. Lévinas studierte in seiner Jugend in Strassburg, Freiburg i. Br. und Paris. Im Freiburg der 20er Jahre hörte er Husserl und Heidegger. Diese Lehrer, die ihn zeit seines Lebens beschäftigten, überbot er mit seinem Denkansatz. Während die beiden bei aller Unterschiedenheit mit ihrem phänomenologischen und ontologischen Denken letztlich im Subjekt verbleiben (Levinas sprach da von Ego-logie), ging er mit dem Gedanken der Unendlichkeit immer darüber hinaus. Er kreiste nicht um das "Sein", sondern suchte das "Antlitz des Anderen", dem gar nicht mit Gleichgültigkeit begegnet werden könne und der doch immer eine bleibende Anders- und Fremdheit behalte. In der "Ethik nach Auschwitz" drängte der hervorragende Talmud-Kenner Lévinas den Gedanken an Gott nie auf, liess ihn aber stets zu. Er dachte Gott als ungegenständliche Unendlichkeit, die "nicht erscheint, nicht gegenwärtig ist", immer schon vorübergegangen ist. So verwendete er nicht das Wort "Gott", sondern sprach im Französischen von "illéité", das die Übersetzer meist mit "Jenigkeit" gleichsetzen. Die deutschen Titel seiner Werke sprechen für sich, so zum Beispiel "Die Spur des Anderen", "Totalität und Unendlichkeit" oder "Wenn Gott ins Denken einfällt". Lévinas hat Bedeutung für Theologie, Philosophie, selbst für die Pädagogik. Er beeinflusste zahlreiche Denker, darunter den späten Jean-Paul Sartre. Die meisten der modernen französischen Philosophen, auch eine Reihe christlicher Theologen – diese mitunter intensiver als die Philosophen – beschäftigen sich mit seinem Werk. Und mehrfach diskutierte Papst Johannes Paul II. in den 80er Jahren mit dem klein gewachsenen grossen Philosophen. Nach wie vor kann das Werk des "zeitgemässesten unzeitgemässen Denkers", wie Lévinas einmal charakterisiert wurde, als gegenwärtig, ja als "zukünftig" gelten. Dafür stehen im Jahr des 100. Geburtstages zahlreiche Veranstaltungen. Den Auftakt macht ein Kolloquium in Paris am Todestag. Zahlreiche weitere Veranstaltungen während der kommenden zwölf Monate folgen, in Litauen oder Israel, China, den USA oder Südafrika. Autor: Christoph StrackGrauen von Nazi-Lagern selbst erlebt
Suche nach dem "Antlitz des Anderen"
Gott als ungegenständliche Unendlichkeit
Zahlreiche Gedenkveranstaltungen
Datum: 12.01.2006
Quelle: Kipa