Wenn Vorbilder scheitern

Wem kann man überhaupt noch vertrauen?

«Ich gebe auf», schreibt ein Freund auf Facebook, nachdem wieder ein Missbrauchs-Skandal bekannt wurde. Man muss sich wirklich fragen: Wem kann man noch glauben? Kann man überhaupt noch glauben? Ist nicht alles Heuchelei?
Nachdenkliches Mädchen (Bild: unsplash.com)

Früher war die Welt noch in Ordnung. Politische oder geistliche Führer waren Personen von Integrität, und man konnte ihnen vertrauen (natürlich gab es immer Ausnahmen). Aber in den letzten Jahren sind viele Denkmäler brutal demontiert worden, gerade auch in kirchlichen Institutionen, wo man irgendwie höhere Ansprüche stellt als an den Rest der Gesellschaft. Wie können wir damit umgehen?

Jeder kann enttäuschen

Schauen wir den Tatsachen ins Auge: Vorbilder enttäuschen uns. Jemand kann fantastische Bücher schreiben und zum Mentor für Tausende werden. Eines Tages kommt heraus, dass er immer wieder Frauen missbraucht hat. Jemand kann ein weltweites Sozialwerk aufbauen, unglaublich viel Gutes bewirken – und in seinem Privatleben ein Tyrann sein. Jemand tut Wunder im Namen Gottes und scheffelt hinter den Kulissen in die eigene Tasche. Jemand schreibt christliche Bestseller und landet mit seiner Sekretärin im Bett. Und so weiter.

Wie kann man das einordnen? Kann man da noch glauben? Ist gerade Religion nicht eine einzige Heuchelei? Ich kann jeden verstehen, der den ganzen Glauben am liebsten auf den Müll werfen würde.

Zwischenruf: Perspektive!

De-eskalieren wir einen Moment. Jawohl, es gibt im christlichen Bereich finanzielle und moralische Fehltritte. Dinge, die nie passieren dürften, geschehen. Und sie sind unentschuldbar.

Und doch: Versuchen wir einen Moment, das Ganze in Perspektive zu sehen. Für jeden Pastor oder Priester, der jemanden missbraucht, stehen Tausende, die es nicht tun, sondern eine fantastische Arbeit im Namen Gottes leisten und die Welt und das Leben von Menschen verbessern. So verlockend die Verallgemeinerung ist: Es sind nicht «alle», die «es» tun. Solche Fälle sind unentschuldbar, aber nicht die Regel.

Glauben? Ja, aber bitte richtig!

So unlogisch es erscheint: Gerade das Versagen von Menschen kann zu einer anderen Art von Glauben führen, ja, einen unmittelbar zu Gott bringen. Wenn ein moralisches Vorbild zerbricht, haben wir die Chance, Wahrheit zu erkennen. Eine Ent-täuschung ist immer das Ende einer Täuschung. Und damit ein – zugegeben brutaler – Schritt in die Wahrheit. Und nur die Wahrheit macht frei, nicht irgendein Bild, das wir uns machen.

Die kaputten «Helden» der Bibel

Wer die Bibel nicht mit einer Brille, sondern ehrlich liest, merkt bald: Hier kommt uns ein ungemein realistisches Menschenbild entgegen. «Wir sind alle Sünder», sagte der Theologe Paulus. Und zwar total, möchte man anfügen, wenn man sich mal die «Helden» der Bibel anschaut: Petrus war ein Feigling, der im entscheidenden Moment leugnete, Jesus zu kennen. Paulus verfolgte und tötete Christen. Elia floh vor einer Frau und wollte sterben. Jakob betrog seinen Bruder. David stieg mit seiner Nachbarin ins Bett und liess ihren Mann töten.

Man könnte diese Liste noch verlängern. All die Helden der Bibel waren eigentlich keine. Sondern Menschen aus Fleisch und Blut, mit Geheimnissen, charakterlichen Schwächen und ständig fähig zu jeder Sünde. Die Bibel kennt kein edles Menschenbild. Was uns hier zerbricht, ist humanistische Idealisierung, nicht aber das Bild, das die Bibel vom Menschen hat. Man kann es nicht deutlich genug sagen: Es geht im christlichen Glauben nicht zuerst um gute Menschen, sondern bestenfalls um zerbrochene SünderInnen, die von Gott in einen Prozess der Heilung genommen werden. 

Glaube ist nicht Ethik

Wenn Sie enttäuscht vom Glauben (und von Christen) sind, sehen Sie die Sache mal von der anderen Seite an: Christlicher Glaube ist nicht primär Ethik. Es geht im Christentum nicht zuerst um Werte, die man erfüllt und mit denen man die Welt besser macht. Das ist eins der grössten Missverständnisse des christlichen Glaubens. Das hervorragendste Leben und Vorbild ist in Gottes Augen immer nur Stückwerk. Und der moralische Zerbruch eines Menschen, den viele bewundert haben, ist für Gott keine Überraschung. «Die Gesunden brauchen keinen Arzt, sondern die Kranken», hat Jesus gesagt.    

Und krank sind wir alle. Wer ehrlich mit sich selbst ist, wird kaum mit dem Finger auf einen Versager zeigen.

Ent-Schuldigung!

Wenn das Evangelium nicht primär Ethik ist, was ist es dann? Man kann es ganz einfach sagen: Es ist eine Rettungsaktion. «Alle sind Sünder» ist die eine Hälfte der Wahrheit, die uns immer wieder schmerzhaft klar wird. Die andere Seite ist: «Alle können durch Vertrauen auf Jesus mit Gott in Ordnung kommen und heil werden.» Wir müssen das Versagen anderer Menschen, aber auch unser eigenes Versagen nicht entschuldigen. Wir sind schon ent-schuldigt, das heisst: Die Schuld ist weggenommen. Darum können wir auch unserem eigenen Abgrund, der dunklen Seite unseres Wesens und unserem Schatten «in die Augen sehen». Wie befreiend ist es, ehrlich werden zu dürfen! Hier fängt Heilung an. Wenn man einer Sache mal «auf den Grund geht», ist unglaubliche Veränderung möglich.

Hören wir auf, Menschen aufs Podest zu stellen. Da gehört einzig Jesus hin. Und seine Kirche schauen wir besser nicht als Museum oder als Heldengalerie, sondern als Spital an. Damit fahren wir besser.

Zum Thema:
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Gipfeltreffen: Papst ruft Kirche zum konsequenten Kampf gegen Missbrauch auf
Warum sich das Bleiben lohnt: Die Kirche ein Spital für Sünder

Datum: 27.02.2020
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet

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