Dass ein posthum herausgekommenes Werk nacheinander zwölf Auflagen erlebt und dann nach zwei Jahrzehnten in einer völlig veränderten Welt wiedererscheint, zeugt von einer ungewöhnlichen Lebenskraft seines Inhalts.
Der Verfasser Ralf Luther, am 5. Juli 1887 in einem Pfarrhaus Revals geboren, wurde nach seinen Studienjahren in Dorpat und Leipzig sowie einer längeren Wirksamkeit in einer grossen estnischen Gemeinde 1922 Nachfolger von D. Traugott Hahn, dem baltischen Märtyrer, im Dienst an der Dorpater deutschen Universitätsgemeinde, der er nach neunjähriger gesegneter Tätigkeit am 3. Juni 1931 durch einen raschen Tod entrissen wurde.
Das »Neutestamentliche Wörterbuch«, sein erstes grösseres Werk, war von ihm selber für die »Urchristliche Botschaft«* bestimmt, da er »von vornherein an die gebildete Laienwelt gedacht hatte«. Ursprünglich aus Bibelstunden über wichtige Ausdrücke im Neuen Testament hervorgegangen, gewann es »nach längeren Wehen« eine neue Gestalt. »Mein Ziel ist, soweit als möglich aufzuräumen mit dem Ineinanderfliessen der Begriffe und die Sprache des Neuen Testaments dem Menschen von heute rein zu Gehör zu bringen.«
Jeder Sachkenner wird urteilen müssen, dass die damit gesetzte Aufgabe in hohem Masse gelungen ist. Es ist ein Wurf aus einem Guss geworden, geboren aus geistlichem »Kontakt« - um einen Lieblingsausdruck Ralf Luthers zu gebrauchen - mit der Heilswirklichkeit des Neuen Testamentes und eben darum imstande, den Weg »durch die Sprache zum Sinn«** wirklich zu weisen.
Ein grosser Vorzug ist die lebendige Verbundenheit des Praktikers mit der Anschauungswelt des Laien; es haftet dem Buch, so sehr es sich auf die Ergebnisse gelehrter Forschung stützt, nichts von dem Studierstubengeruch des zünftigen Neutestamentlers an. Man spürt es ihm unmittelbar ab, dass es aus dem innersten Impuls eines in letzter Bedeutung »Mobilgemachten« stammt.
Es wirkt sich in ihm offenkundig das gleiche Charisma aus, das den schwerblütigen, aber dem Dienst der Wahrheit mit selbstloser Treue hingegebenen Mann in seiner Gemeinde, auf den Synoden der deutschen Kirche Estlands und als Seelsorger der Seelsorger je länger desto mehr in besonderem Sinn zu einem Werkzeug des Herrn und seines Evangeliums machte.
Einer seiner Amtsbrüder, der ihm nahestand, schrieb: »An Ralf Luther, an seinem inneren Werdegang, an seinem Heranreifen ist mir die Realität des im Evangelium wirksamen Gottesgeistes zu einem ganz grossen Erleben geworden.«
Bemerkenswert ist, dass die wundervolle Freiheit, die einem aus dem »Wörterbuch« so wohltuend entgegenstrahlt, ihm geschenkt wurde als Durchbruch durch eine Periode seines inneren Lebens, in der seine Frömmigkeit einen asketisch-gesetzlichen Charakter trug. Pastor W. Thomson berichtete über diesen Umschwung: »Die Arbeit am Neuen Testament, das unermüdliche Hinhören, ja Hineinhorchen in die Worte des Herrn brachte als Resultat eine recht wesentliche Neuorientierung. Allem Asketisch-Gesetzlichen in der Frömmigkeit wurde der Krieg erklärt, im Zwang - gerade im religiösen Zwang - sah er die schlimmste Verkennung und Verkehrung des Evangeliums. Weltoffenheit wurde ihm zum Prinzip, ein ganz erstaunlich tiefes und feines Verständnis auch für ganz andersartige, auch für ganz unkirchliche Persönlichkeiten ging in ihm auf; jeden Menschen, besonders auch Kinder, nahm er ganz neu und voll.«
Nach seinem eigenen Zeugnis - das durch das Buch vollauf bestätigt wird - hat der Einfluss von Joh. Chr. Blumhardt keinen geringen Anteil an dieser veränderten Haltung. Diese Entwicklung war noch nicht abgeschlossen, als Gott ihr für dieses Leben ein Ziel setzte.
Für die neue Auflage hat Pfarrer Otto Etzold es in dankenswerter Weise übernommen, das Werk in diesem Sinne neu durchzusehen und zu ergänzen. Er war dazu besonders berufen, weil er dem Verfasser seinerzeit als Dorpater Student nahegestanden hat.
Es liegt ihm daran, »festzustellen, dass Ralf Luthers Schau der neutestamentlichen Botschaft nicht theologische Ahnungslosigkeit ist, sondern dass er zuvor durch ein intensives und freudiges Lutherstudium hindurchgegangen war. So hatte er einen Kreis von Amtsbrüdern um sich geschart, und es gab durch das gemeinsame Lutherstudium ein neues Leben. Auch zu uns Studenten kam er mit dem Galaterkommentar und ›De servo arbitrio‹.*** Dann kam sein Umschwung, den manche seiner Freunde zunächst gar nicht begreifen konnten. Nun war seine Verkündigung ganz anders: praktisch, lebendig, werbend, auch ganz bewusst einseitig und im Gegensatz zur hergebrachten Predigt zugespitzt ...«
Was nun die vorgenommenen Änderungen selber angeht, so handelt es sich - abgesehen von Milderungen im Ausdruck - hauptsächlich um die Artikel »Abendmahl«, »Apostel«, »Auferstehung«, »Erwählung«, »Gerechtigkeit Gottes«, »Gerechtigkeit von Menschen«, »Zorn Gottes«. Der für Stilunterschiede empfindliche Leser wird sie aus der etwas anderen Tonart herausspüren. In den Ausführungen über »Glaube« ist der Abschnitt »Glaube ist Heimweh« mit Absicht unverändert geblieben, obwohl seine Formulierungen theologisch ungeschützt erscheinen.
Gewiss wäre darüber hinaus noch manches zu fragen. So glaube ich nicht, dass »ewiges Leben« im Neuen Testament nur »das Leben des kommenden Zeitlaufs« bedeutet; es ist das Leben, das im Unterschied zum zeitlichen Leben nicht vergeht; das gleiche gilt dann aber von der »ewigen Pein« (Matth. 25,46). Aber eine solche »Einführung in Sprache und Sinn des urchristlichen Schrifttums« kann ja niemals die Absicht haben, das eigene Sinnen und Forschen durch autoritative Feststellungen lahmzulegen - nichts wäre mehr »gegen die Meinung des Vollendeten; sondern die Aufgabe kann immer nur sein, einen Hilfsdienst zu leisten für den selbständigen Umgang mit dem Wort des Neuen Testamentes«.
Das gilt auch von einem »Grundton des ganzen Buches«, an dem der Bearbeiter, »obwohl im Neuen Testament die Akzente anders zu liegen scheinen«, nichts geändert hat, dass nämlich »alles auf die ursprüngliche Gottebenbildlichkeit des Menschen gegründet wird und nicht so sehr auf die in Christus erschienene Gnade«.
Pfarrer Etzold schreibt darüber an mich: »Es geht ja um die lebendige Spannung zwischen der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, und der Gottinnigkeit, Gottesnähe, wie sie Gotteskinder haben sollen und dürfen; zwischen dem angestammten Recht des Menschen auf Gotteskindschaft und dem, was Christus für uns durch Tod und Auferstehung erworben; zwischen Rechtfertigung und Gabe des Heiligen Geistes; zwischen Schöpfung und Neuschöpfung. Aber der müsste ja blind sein, der diese Spannung nicht auch im Neuen Testament zwischen Evangelien und Briefen spürt und nicht weiss, dass beide in einer tieferen Einheit verbunden sind: die Gnade stellt die ursprüngliche Schöpfung wieder her.«
Mit alledem soll der kostbaren Gabe, die das »Neutestamentliche Wörterbuch« von Ralf Luther für die Gemeinde der Gegenwart bedeutet, nichts genommen werden. Wie könnten auch diese theologischen Ergänzungen den Überschwang des tatsächlichen Ergriffenseins von der Urgewalt der urchristlichen Botschaft hemmen, der dieses Werk durchpulst!
Sie wollen nur dazu mithelfen, dies Vermächtnis eines begnadeten Zeugen fruchtbar zu machen, indem sie von dem irdenen Gefäss, in dem wir alle miteinander den überschwenglichen Reichtum haben, den Blick hinwenden auf den ewigen Schatz, der uns im Evangelium des Neuen Testamentes anvertraut ist.
* eine Reihe zur »Einführung in die Schriften des Neuen Testaments« unter Mitarbeit von Hans Asmussen, Otto Dibelius, Karl Heim, Adolf Köberle, Hanns Lilje, Heinrich Rendtorff u. a., im Furche-Verlag herausgegeben von Prof. D. Otto Schmitz.
** so der ursprünglich vorgesehen Titel
*** Schriften von Martin Luther
Autor: Otto Schmitz
Datum: 11.12.2009
Quelle: Neutestamentliches Wörterbuch