Ein Freiheitsrecht im Dienst von Wahrheit und Gerechtigkeit
«Frei und offen und völlig ungehindert verkündete er ihnen allen, wie Gott jetzt seine Herrschaft aufrichtet, und lehrte sie alles über Jesus Christus, den Herrn.» (Apostelgeschichte Kapitel 28, Vers 31) Was Lukas in der Apostelgeschichte über die Art und Weise des Wirkens von Paulus schreibt, ist leider nicht repräsentativ für die Meinungsfreiheit zur Zeit der biblischen Autoren. Heute in der Schweiz frage ich mich vor allem, was ich sagen darf, ohne gesellschaftlich stigmatisiert oder juristisch belangt zu werden. Ein Mensch damals stellte vielmehr die Frage nach dem Besitz: nicht primär nach seinem Besitz, sondern danach, wem er selber gehört. Menschen waren oft im Besitz anderer Menschen. Und als Sklaven war so etwas wie Meinungsäusserungsfreiheit gar kein Thema. Gehorsam dem Herrn gegenüber lautete die Devise zur Zeit des Alten Testaments und auch für viele Menschen zur Zeit der neutestamentlichen Texte, als Lukas seine Apostelgeschichte und damit den eingangs zitierten Vers verfasste.
Prophetie ohne Meinungsfreiheit?
Das Volk Israel hat zwar sehr früh in der Geschichte seine Befreiung aus Sklaverei und fremder Herrschaft gefeiert. So wird mit dem Passahfest der Befreiung des Volkes aus der Unterdrückung in Ägypten gedacht und die ungezügelte Machtausübung des Pharaos kritisiert. Darin zeigt sich auch die grundsätzliche Anerkennung der Freiheit als ein Grundrecht für alle Angehörigen eines Volkes. Trotzdem wurden in Israel – ebenso wie in anderen antiken Hochkulturen – Sklaven gehalten.
Wenn Paulus viel später im Galaterbrief schreibt: «Zur Freiheit hat Christus uns befreit! Bleibt daher standhaft und lasst euch nicht wieder unter das Joch der Sklaverei zwingen!» (Galater Kapitel 5, Vers 1), dann verwendet er zwar das Bild des befreiten Sklaven, wendet es jedoch auf eine innere Freiheit an und kritisiert nicht generell die Sklaverei. Diese innere Freiheit deutet jedoch bereits auf eine anzustrebende Meinungsfreiheit hin. So wird in den biblischen Berichten immer wieder kritisch darauf hingewiesen, wenn ein König oder Herrscher die Meinungsfreiheit nicht gewährt hat – zum Beispiel gegenüber den Propheten, deren Dienst gerade nur auf der Basis der Meinungsfreiheit möglich war. Deshalb waren es auch die Propheten, die stark unter der eingeschränkten Meinungsfreiheit litten.
Unabhängigkeit von Beeinflussung
Der griechische Staatsmann Perikles bemerkte ca. 500 vor Christus in der ältesten Demokratie in Athen treffend: «Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut.» Dieser Mut zur Freiheit war denn auch vor über 2000 Jahren viel notwendiger als in der heutigen, sogenannt freien Welt, wollte man wirklich seine Meinung kundtun. Der Begriff der Freiheit wird noch im Neuen Testament primär dafür verwendet, freie Menschen zu bezeichnen, solche also, die keine Sklaven (mehr) sind.
Die altgriechische Sprache verwendet drei verschiedene Begriffe für Freiheit: den ersten im Sinn von «sich selbst gehörend», einen zweiten von «unabhängig» (autonom) und schliesslich von «selbstgenügsam» (autark). Der Freiheitsbegriff wird kaum, wenn überhaupt, in Bezug auf Meinungsfreiheit verwendet. Am ehesten kommt sie im Begriff «Autonomie» zum Ausdruck: Eine freie Meinung ist unabhängig von Beeinflussung und Manipulation.
Vorbilder im Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit
Obwohl der Begriff der Meinungsfreiheit selbst nicht vorkommt, kann man doch ableiten, dass die biblischen Autoren die Meinungsfreiheit schützen wollen. Dies kommt in den Berichten über biblische Persönlichkeiten wie Esther, Daniel und viele weitere Propheten zum Ausdruck. Auch wenn die Machthabenden damals eben gerade keine Meinungsfreiheit gewährt haben, so halten Königin Esther und die Propheten an der Wahrheit und Gerechtigkeit fest und nehmen in Kauf, dass sie für ihre freie Meinung, ihre Kritik, hart bestraft werden. Die Bibel stellt dieses Verhalten als vorbildlich dar und kritisiert die Machthaber, die das Recht beugen und Meinungsfreiheit nicht gewähren. So lesen wir zum Beispiel in Psalm 40, Vers 10: «Ich verkündige Gerechtigkeit in der grossen Gemeinde. Siehe, ich will mir meinen Mund nicht stopfen lassen; Herr, das weisst du.» Eine Fortsetzung findet diese Haltung im Neuen Testament, etwa wenn Jesus seinen Jüngern voraussagt, dass sie um seinetwillen verfolgt und bestraft werden, oder wenn Petrus, Stephanus oder Paulus bestraft werden, wenn sie das Evangelium verkündigen, weil dies bestimmten Machthabern nicht passt.
Freiheit mit Grenzen
Man könnte allerdings fragen, ob nicht bereits die Zehn Gebote die Meinungsfreiheit einschränkten. So steht beispielsweise im dritten Gebot in den Mosebüchern: «Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.» (2. Mose Kapitel 20, Vers 7) Ist das nicht ein Anti-Blasphemie-Artikel, der sozusagen Gotteslästerung unter Strafe stellt und damit die Meinungsfreiheit stark einschränkt?
Bei dieser Frage sehen wir, wo die Grenzen der Menschenrechte sind. Sie gelten eben für Menschen; nicht aber für Gott. Auch wenn die Menschenrechte, wie die Meinungsfreiheit, christlich inspiriert sind und es im Sinn des Schöpfers ist, sie zu fördern und zu schützen, so kann sich der Herrscher des Universums doch darüber hinwegsetzen. Er wird dies dann und dort tun, wo Wahrheit und Gerechtigkeit mit Füssen getreten werden. Also wenn jemand Gottes Namen missbraucht oder gar Gott selbst abstreitet oder ablehnt. Im Gegensatz zu bestehenden Blasphemie-Gesetzen ist jedoch Gott selber der Richter, wenn es um die Durchsetzung der Zehn Gebote geht.
Eine weitere Grenze der «biblischen» Meinungsfreiheit bildet die Lüge. Die Unwahrheit zu sagen, wird nicht geschützt, sondern eben zum Beispiel in den Zehn Geboten als verwerflich bezeichnet. So schützt das achte Gebot jene, welche die Meinungsfreiheit für die Wahrheit nützen, indem es sagt: «Du sollst nichts Unwahres über deinen Mitmenschen sagen.» (2. Mose Kapitel 20, Vers 16) Wer sein Gewissen an die Wahrheit knüpft und entsprechend nichts sagt, was von irgendwoher manipuliert worden ist, der ist auf Meinungsfreiheit angewiesen. Wer wahrhaftig agieren will, braucht Meinungsfreiheit oder den Mut, die Konsequenzen zu tragen. Propheten haben von der Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht und die Konsequenzen nicht gescheut, selbst wenn manchmal der Tod die Folge ihrer freien Rede war. Im Neuen Testament ist dieses Schicksal zum Beispiel Johannes dem Täufer oder Stephanus, dem ersten Märtyrer, widerfahren.
Im Zweifelsfall für die Meinungsfreiheit
Aber wer kann prüfen, ob eine menschliche Rede wahr ist? In letzter Konsequenz kann dies nur Gott. Vor Gott gibt es deshalb keine Freiheit zur Lüge aus biblischer Sicht. Vor den Menschen wird die Lüge erst sanktioniert, wo sie bewiesen werden kann. Nur vor diesem Hintergrund ist das vielzitierte Wort der Voltaire-Biografin, Evelyn Beatrice Hall, zu verstehen und auch zu unterstützen: «Ich lehne ab, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tod Ihr Recht verteidigen, es sagen zu dürfen.»
Es erfordert Demut von uns Menschen, einzugestehen, dass wir nicht in jedem Fall die Wahrheit kennen. Und so gewähren wir grundsätzlich die Meinungsfreiheit – auch im Zweifelsfall. Gleichzeitig wäre es wünschenswert, wenn jeder Mensch seine Freiheit im Sinn von Martin Luther nutzen würde: «In Christus sind alle Menschen frei, aber diese Freiheit ist durch die Liebe bzw. die Verantwortung für den Mitmenschen gebunden.» Oder anders ausgedrückt: Jedes Menschenrecht – auch jenes der Meinungsfreiheit – ist ebenso eine Menschenpflicht meinem Nächsten gegenüber. Und nur in dieser Verantwortung gelebt, ist die Meinungsfreiheit letztlich auch im Dienst des Gemeinwohls.
Dieser Artikel erschien zuerst im Magazin INSIST.
Livenet-Talk zur Meinungsfreiheit am 24. September 2020
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Datum: 24.09.2020
Autor: Marc Jost
Quelle: Magazin INSIST