Gegen den Strich

Wachstumsdenken ist naiv

Wirtschaftswachstum ist kein «Muss» für eine gesunde Volkswirtschaft. Diese Haltung vertritt der tschechische Wirtschaftswissenschaftler Tomás Sedlácek in seinen Büchern. Er bezieht sich dabei oft auf die Bibel. Der «Spiegel» widmet dem Querdenker, der bereits an diversen christlichen Kongressen und Konferenzen sprach, einen ausführlichen Bericht.
Tomáš Sedláček

In einem Interview mit dem «Spiegel» spöttelt Tomáš Sedláček über das eherne Prinzip des Wachstums als «Mont Blanc der Naivität»: «Unsere Gesundheitssysteme sind darauf aufgebaut, dass die Wirtschaft immer um soundso viel Prozent wächst. Aber wer sagt, dass das so ist? Welcher Gott hat euch das im Traum zugeflüstert?» Sedláček ist Chefvolkswirt der Tschechoslowakischen Handelsbank und Mitglied des Nationalen Wirtschaftsrates, die den tschechischen Regierungschef berät.

Schuldenwohlstand

Ein Wirtschaftswachstum, das von Politikern durch Verschuldung erreicht wird, lehnt Tomáš Sedláček ab: «Unser Wachstum ist unnatürlich. Wenn ich mir 10'000 Euro leihe, würde nur ein Idiot glauben, dass ich um 10'000 Euro reicher bin. Wenn die Regierung das Gleiche tut, sich für drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts verschuldet, das Geld investiert und so dafür sorgt, dass die Wirtschaft um drei Prozent wächst, applaudieren alle. Sie glauben tatsächlich, dass wir dann drei Prozent reicher sind.»

So kommt er zu dem Urteil, dass  ein «Grossteil unseres Wohlstands künstlich ist». Sedláček weiter: «Unsere Gesellschaft ist berauscht von Schulden. Das ist kein Wohlstand, das ist Schuldenwohlstand.»

«Monopoly» und «Herr der Ringe»

Wer dem Wirtschaftswissenschaftler folgt, fühlt sich nicht nur gut informiert, sondern auch bestens unterhalten. Sedláček nimmt mal Bezug auf das Monopoly-Spiel oder auf den «Herr der Ringe», um seine Einschätzungen verständlich zu machen. So machte ihn sein Buch «Die Ökonomie von Gut und Böse» weit über die Landesgrenzen bekannt. Als einziges nicht-fiktionales Buch erreichte es in Tschechien 2009 die Bestsellerlisten.

Tomáš Sedláček ist Christ und bezieht sich in dem ausführlichen Interview mit dem «Spiegel» oft auf die Bibel: Sei es die Schöpfung, sei es das Gebot der Ruhe am sieben Tag oder auf die Idee des Jubeljahres in Israel.

«Schuldenmachen ist eine Riesenversuchung»

Um den Kreislauf aus Verschuldung und Wachstum zu durchbrechen schlägt Sedláček vor, dass die Aufnahme von Schulden nicht mehr im Ermessen der Politiker liegt, sondern einer unabhängigen Institution unterstellt wird, analog zu den Nationalbanken und der Europäischen Zentralbank, die für den Geldfluss verantwortlich sind. Nach seiner Meinung ist Schuldenmachen «eine Riesenversuchung der Politiker, weil sie damit kurzfristiges Wachstum schaffen können».

So fordert Sedláček : «Lasst uns die Fiskalpolitik den Politikern wegnehmen, nicht die Steuerpolitik, aber die Möglichkeit, Schulden zu machen. Die Bürger jedes Landes sollten demokratisch entscheiden können, ob sie einem Land mit niedrigen Steuern und niedrigen Ausgaben leben wollen oder in einem Land mit hohen Steuern und hohen Ausgaben. Was nicht geht, ist niedrige Steuern und hohe Ausgaben.»

Der Gott der Märkte führt nicht alles zum Guten

Tomáš Sedláček stellt lapidar fest, dass es kein perfektes Wirtschaftssystem gibt. Dennoch seien viele Analysen und Vorschläge gerade von dieser Vorstellung bestimmt: «Wir haben dem Markt alles Menschliche entzogen. Wir haben den Markt vergöttlicht und ihm so viel Entscheidungsgewalt zugebilligt wie möglich. Wir glaubten, dass der Gott der Märkte alles zum Guten führe. Aber meine Botschaft ist: Es gibt keinen solchen Gott der Märkte. Und wir sollten diese Märkte wie jede andere menschliche Erfindung betrachten: als unperfekt.»

Die Werte der Wirtschaft seien Profit, aber auch «Egoismus, Nutzen, Effizienz oder Freiheit». «Das Problem ist: Fast alle unsere Werte sind ökonomisch geprägt. Wir beurteilen alles nach wirtschaftlichen Kriterien. Korruption zum Beispiel galt früher als falsch, weil es einfach Diebstahl war. Heute gilt Korruption immer noch als falsch, aber die Begründung ist eine andere: Korruption behindert das Wirtschaftswachstum.»

Datum: 11.02.2015
Autor: Norbert Abt
Quelle: Livenet

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