Warum wir über Missbrauchsfälle berichten
Am 19. Mai 2020 starb Ravi Zacharias, ein weltbekannter Apologet (Livenet berichtete). Inzwischen ist klar, dass Zacharias jahrelang Frauen in seinem Umfeld sexuell missbrauchte. Bill Hybels gründete die Willow Creek Church in Chicago und war jahrzehntelang der Inbegriff eines Pastors, der Suchende erreichen kann – bis die Meldung über Missbrauch seinen Ausstieg aus der aktiven Arbeit verdarb. Auch Jean Vanier, langjähriger Leiter der christlichen Arche-Gemeinschaften, hatte über einen langen Zeitraum hinweg «manipulative sexuelle Beziehungen» zu Frauen (Livenet berichtete). Diese Liste liesse sich – leider – problemlos verlängern.
Sollen christliche Medien darüber berichten? Wird dadurch nicht eine negative Stimmung gegenüber dem Glauben aufgebaut? Und was ist mit all dem Guten, das diese christlichen Leiter erreicht haben?
Es tut weh!
Zunächst einmal ist es wichtig zu unterstreichen: Diese Berichte geschehen nie aus Schadenfreude. Zu sehen, wie ein angesehener Leiter abstürzt, und wie Menschen in seiner Umgebung verletzt wurden, das tut einfach weh. Allerdings sind nicht nur Christen einer Wahrheit verpflichtet, die frei macht (Johannes-Evangelium, Kapitel 8, Vers 32), sondern auch jegliche journalistische Berichterstattung. So lautet der erste Punkt des deutschen Pressekodex: «Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.»
Würde für Betroffene
Äusserungen wie: «Muss man der Sache denn jetzt noch hinterhergehen? Durch ihn wurden doch so viele Menschen gesegnet?», werden der Situation nicht gerecht. Was ist mit den zahllosen Betroffenen im Umfeld solcher Täter? Ravi Zacharias mag verstorben sein, doch seine Opfer leben weiter. Sie tragen die Last der Vergangenheit und leben mit ihren traumatischen Erlebnissen. Weder die guten Taten eines christlichen Leiters noch sein Tod sollten seine Opfer zum Schweigen bringen. Sie müssen gehört werden. Sie sollen Gerechtigkeit erfahren. Und soweit möglich auch Wiederherstellung erfahren.
Es ist kein Wunder, wenn ein zögerlicher Umgang mit diesen Fragen den Zorn der Betroffenen hervorruft – wie beim letzten Beschluss der katholischen Kirche, ihre Missbrauchsopfer nach jahrzehntelanger Beratung mit mindestens 5'000 Euro zu entschädigen. Eine echte Würdigung der Betroffenen sähe anders aus.
Die Ehrlichkeit der Bibel
Die Grundlage des christlichen Glaubens ist in einem Buch begründet – der Bibel. Und dieses Buch Gottes berichtet von vielen «Helden des Glaubens», aber sie bleibt dabei nicht stehen. Was viele Bibelleser erschreckt, ist in diesem Zusammenhang ein echtes Plus: Die Bibel ist ehrlich. Sie erzählt nicht nur von Davids grandiosem Sieg über Goliath, sondern auch von seinem Ehebruch. Versagen und Sünde werden an keiner Stelle schöngeredet – und sie werden auch nicht verschwiegen. Damit ist die Bibel ein grossartiges Vorbild auch für moderne Berichterstattung, denn: «Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich zur Belehrung, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit» (2. Timotheus, Kapitel 3, Vers 16). Lernen ist möglich.
Vorsicht vor Heiligenkult
Wenn wir über Verfehlungen von Leitern berichten, dann geschieht das weder sensationslüstern noch menschenverachtend. Dann geht es weder darum, Leiter zu demontieren, noch ihr Handeln zu verharmlosen. Aber wir wollen auch keine Heiligenscheine verteilen, wo sie nicht hingehören.
Die Begeisterung für Menschen, die Gott in besonderer Weise gebraucht, endet schnell in Kritiklosigkeit. Da zitiert dann schon mal ein Leiter die Psalmen, um sich zu schützen: «Tastet meine Gesalbten nicht an und fügt meinen Propheten kein Leid zu!» (Psalm 105, Vers 15). Wo heute solche Äusserungen fallen, da ist struktureller Missbrauch bereits vorprogrammiert. Tatsächlich geht es nicht darum, Leiter zu erheben und ihre Begabung oder die Grösse ihrer Gemeinde als Entschuldigung für ihren Lebenswandel zu nehmen. Auch «Gesalbte des Herrn» brauchen ein Korrektiv. Wo das nicht von vorneherein beachtet wird, müssen sich nicht nur «gefallene» Leiter, sondern auch ihre Mitverantwortlichen fragen, warum sie nicht viel früher gegengesteuert haben.
Entgegen einiger Berichte ist Kirche nicht der Raum, in dem hauptsächlich Missbrauch geschieht. Aber solange Leiter noch in einem Personenkult gefeiert werden wie Ravi Zacharias oder Bill Hybels, solange Strukturen bestehen, in denen Leiter nicht hinterfragt werden dürfen, und solange das Ansehen der Gemeinde wichtiger ist als das Leid einzelner Opfer, bleibt Missbrauch vorprogrammiert. Und bis dahin werden wir über solche Missbrauchsfälle berichten.
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Datum: 11.01.2021
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet