«Es wäre Wahnsinn Facebook auszuklammern»
Facebook ermöglicht es, mit Freunden blitzschnell, rund um die Uhr und völlig ortsunabhängig in Kontakt zu sein. Egal, ob alter Schulfreund oder Verwandte in Übersee: Bei Facebook finden Menschen zusammen.
Jeder Nutzer pflegt eine persönliche Seite, auf der er verschiedene Angaben zu Person, Hobbys und Vorlieben macht. Vom Schulabschluss über beruflichen Werdegang bis zum Beziehungsstatus können Daten eingegeben werden. Auch politische Ansichten und Religionszugehörigkeit werden abgefragt. Alle Angaben sind freiwillig – doch Facebook animiert seine Nutzer immer wieder, noch mehr über sich preiszugeben.
Abbild der Gesellschaft
Nicht nur Privatpersonen melden sich an; auch Unternehmen, Vereine und Organisationen schaffen sich eine Präsenz im Netzwerk. Es gibt kaum ein Thema, das bei Facebook nicht behandelt wird.
Wer den Glauben schnell an eine grosse Zahl Menschen verbreiten will, kommt an Facebook kaum noch vorbei. Kein Wunder also, dass Kirchen und christliche Werke die Plattform nutzen.
Chance mit Tücken
Eine solch gewaltige Chance, so viele Menschen in kurzer Zeit zu erreichen, gab es für Christen seit langem nicht mehr. Doch wer Erfolg haben will, muss das Medium richtig nutzen. Denn Facebook ist kein weiteres Mittel der Einbahnstrassen-Kommunikation: Das alte Sender-Empfänger-Prinzip funktioniert in einem solchen sozialen Netzwerk nicht. Wer Menschen erreichen und für den Glauben begeistern will, muss sich auf sie einlassen und in direkten Kontakt treten. Der Austausch ist das entscheidende Kriterium in Facebook.
Andererseits ist die Datenspeicherung schon weit überbordet. Das zeigt beispielsweise der aktuelle Fall des Wiener Studenten Max Schrems. Er forderte bei Facebook die Daten an, die das Unternehmen in drei Jahren Mitgliedschaft über ihn gespeichert hat. Heraus kamen über 1200 DIN-A-4-Seiten – randvoll mit persönlichen Angaben, Nachrichtenverläufen und Chat-Protokollen.
Im Auge behalten
Wer sich auf Facebook einlässt, muss also wissen, dass Vieles in seinem Leben nicht mehr geheim ist. Es gibt deshalb eine Vielzahl von Christen, die bei Facebook bewusst nicht mitmachen. Facebook will das ganze Leben archivieren.
Trotz aller Kritik ist Facebook so beliebt wie noch nie. Kein Wunder, denn es macht ja auch Spass und hat Vorteile. Doch es ist ein schmaler Grat zwischen dem Nutzen und den negativen Aspekten. Facebook ist ein riesiger Faktor, der unsere vernetzte Welt mitbestimmt – ob es uns gefällt oder nicht. Gemeinden, Kirchen und christliche Organisationen tun gut daran, sich mit diesem Giganten weiter zu beschäftigen. Die Chancen für Mission und Mobilisierung der Mitglieder liegen auf der Hand.
Durch die direkte Interaktion und den Austausch mit anderen Menschen auf Facebook sind die Tätigkeitsfelder für Christen vielfältig – von der Seelsorge bis zur Mission. Längst sind Organisationen wie ERF Medien präsent; evangelische und evangelikale Hilfswerke nutzen die Plattform und rund ein Drittel der Landeskirchen haben ihre eigene Seite.
Jörg Dechert ist Leiter der Abteilung Internet bei ERF Medien. Der gemeinnützige Verein nutzt seit rund einem Jahr unter anderem Facebook, um Menschen zu helfen, den Glauben an Jesus Christus zu entdecken. In einem Interview erklärt Jörg Dechert, wo die Chancen liegen, das Medium speziell für die christliche Medienarbeit einzusetzen.
Was sind die Ziele von ERF Medien bei Facebook?
Jörg Dechert: Für uns als christliches Medienmissionswerk ist Facebook nicht nur ein Kanal unserer Arbeit, sondern es ist ein direktes Arbeitsfeld. Wenn Facebook ein Land wäre, in dem 800 Millionen Menschen leben, dann würden wir dort natürlich auch Missionare hinschicken. Es wäre ja Wahnsinn es nicht zu tun, wenn man Mission auf dem Herzen hat. Facebook ermöglicht uns mit Menschen über Glaubensfragen in Kontakt zu kommen.
Welchen Stellenwert hat Facebook heute für christliche Organisationen Anhänger zu mobilisieren?
Medial gesehen, sehe ich darin eine Riesenchance. Ganz einfach auch deswegen, weil andere Formen dramatisch viel teurer sind. Wenn man eine ähnlich grosse Masse erreichen will, müsste man Fernsehwerbung oder Anzeigen in grossen Tageszeitungen schalten, die viel teurer sind. Gerade in christlichen Gemeinden herrscht eine Kultur, die Inhalte und Meinungen gern weitergibt und verbreiten möchte.
Mitglieder von Facebook spenden sich auf verschiedenen Seiten gegenseitig Trost und sprechen sich Mut zu. Kann Facebook ein Instrument der Seelsorge sein?
Ich sehe im Internet grosses seelsorgerisches Potential. Bei Facebook bin ich mir nicht ganz sicher. Denn es stellt sich immer die Frage, wer kann das lesen, was ich eintippe. Die Server stehen in den USA und speichern die Daten sehr lange. Da herrscht keine wirkliche Privatsphäre.
Aber das Internet ist generell zur Seelsorge geeignet. Die Anonymität des Netzes ist ein grosser Vorteil. Jemandem ins Gesicht zu schauen und zu sagen, was innerlich alles schief läuft, kostet doch mehr Überwindung als dies einfach über das Internet zu tun. Wir erleben aber auch immer wieder Menschen, die in ihrer Gemeinde einfach keinen Ansprechpartner haben und deshalb via Internet zu uns kommen.
Wie sollten Christen mit persönlichen Angaben zu solchen sensiblen Themen wie Glaube und Religion umgehen?
Sind das sensible Themen? Wir haben es so drauf, zu sagen der Glaube ist Privatsache. Aber theologisch glaube ich, stimmt das nicht. Glaube ist etwas Persönliches aber nicht privat. Trotzdem sollte man seine Angaben im Bewusstsein machen, dass Facebook alles speichert. Das heisst für mich, Familie und seelsorgerische Erfahrungen aus der Gemeinde gehören da nicht rein. Allerdings befürchte ich, dass wir als Gesellschaft gerade dieses Bewusstsein für das Private verlieren.
Können christliche Initiativen in Facebook eine Art digitale Lobpreisung Gottes leisten?
Ich glaube, dass in Facebook-Seiten viel Potential steckt. Paulus ist auch auf den Marktplatz oder zu den Wäscherinnen am Fluss gegangen. Das ist vielleicht oberflächlicher als in der Synagoge, was aber nicht heisst, dass das Wort Gottes dort nicht hingehört – denn es gehört überall hin!
Wir sollten einzelne Verbreitungswege aber nicht überschätzen: Denn bloss, weil etwas bei Facebook geschrieben steht, heisst es noch nicht, dass es Wirkung entfaltet. Jeder, der das Wort Gottes verkündet, möchte auch, dass es auf fruchtbaren Boden fällt. Hier heisst es viel ausprobieren und die Wirksamkeit ehrlich zu reflektieren. Das Wort Gottes in Facebook unter die Leute zu bringen, ist also eine Sache. Es so zu tun, dass eine wirkliche Begegnung und ein Austausch stattfindet ist eine andere.
Können Sie christlichen Gemeinschaften Tipps geben, wie sie es erreichen, dass ihre Inhalte Wirkung entfalten?
Ein Anfang ist es, genauso zu denken, wie ich es in einem persönlichen Gespräch auch tun würde. Facebook ist sozial und will den Austausch fördern. Wenn man in der Kneipe über Glaubensfragen spricht, sendet man auch nicht nur eine Botschaft und macht dann dicht, sondern man hört dem Gegenüber zu und stellt Fragen. Genauso sollte in Facebook eine Begegnung auf Augenhöhe stattfinden.
Datum: 14.10.2011
Quelle: idea.de