Weissrussische Freikirchen zwischen Diakonie und Protest
Der katholische Minsker Erzbischof Tadeusz Kondrusiewicz wurde jetzt sogar die Rückkehr verboten, nachdem er kurz in Polen war. Bei den Orthodoxen scheint es sich so zu verhalten, dass das Kirchenvolk mit den Pfarrern die Demokratisierungsbewegung unterstützt, sich fast alle Bischöfe jedoch gefügig auf die Seite der Obrigkeit stellen.
Von den evangelischen Weissrussen ist fast gar nicht die Rede. Nach einem anfänglichen Aufblühen von Lutheranern und besonders Reformierten hatten dem katholische Gegenreformation und das orthodoxe Staaatskirchentum der Zaren ein Ende gesetzt. Was dann im Sowjetuntergrund leise heranwuchs, kam seit der Wende zur vollen Blüte: Heute sind die Pfingstkirchen mit 16 Prozent zweitgrösste Religionsgemeinschaft in Belarus, noch vor den 15 Prozent Katholiken. Denen folgen mit 9 Prozent die Baptisten, darauf mit 2 Prozent «charismatische» Freikirchen.
Bei den Protesten: Evangelikale an der Spitze
Wie das «Evangelische Informationszentrum Belarus» berichtet, handelt es sich bei der weissrussischen Protestbewegung um ein nicht nur demokratisches, sondern ebenso gesamtchristliches Anliegen. Zahlenmässig führend sind dabei orthodoxe und katholische Gläubige wie auch Priester und Schwestern. Die meisten Demonstrationen haben die Gestalt von Kirchenprozessionen. Evangelikale Christinnen und Christen sowie ihre Pastoren stehen dabei aber oft an der Spitze des Zuges. Beim gemeinsamen Gebet an verschiedenen Halteplätzen beten zuerst die Orthodoxen, darauf die anderen Christen.
Demokratisierungsappelle und Zurückhaltung
Die charismatische «New Life Church» in Minsk hat einen Demokratisierungsappell an Präsident Alexander Lukaschenko gerichtet. Ebenso andere Freikirchen und die Adventisten. Die Baptisten und Pfingstkirchen halten sich mit einer gemeinsamen Positionierung noch zurück. Bei ihnen herrscht generell grosse Vielfalt, es gibt viele Richtungen und die Gemeinden sind in der Regel autonom. Bisher versuchten die Evangelischen in Belarus, sich nicht in die Politik einzumischen, um ihre ohnedies prekäre Position nicht zu gefährden. Aber es gibt genug Einzelpersonen, die jetzt das Protestlager stärken.
Wie aus namentlich vorliegenden, aber wegen ihrer Sicherheit anonym bleibenden Quellen zu erfahren ist, befinden sich unter den seit Beginn der Anti-Lukaschenko-Bewegung Festgenommenen auch zahlreiche evangelikale Christinnen und Christen, besonders aus der pfingstkirchlichen Johannes-der-Täufer-Gemeinde in der Hauptstadt Minsk. Sie würden misshandelt und gezielt durch Schlafentzug gequält. Es gebe Fälle, wo in zwei Tagen und Nächten nur eineinhalb Stunden Schlaf gewährt wurden. Auch das Zusammensperren mit gewalttätigen Kriminellen sei an der Tagesordnung.
Lukaschenko-Kritik in Grodno
Als einzige orthodoxe Führungspersönlichkeit hat der Erzbischof von Grodno, Artemij Kischtschenko, das brutale Vorgehen des Lukaschenko-Regimes verurteilt und sich für die Reformanliegen der Demonstranten ausgesprochen. Beobachter in der Region bringen das mit seinem freundschaftlichen Verhältnis zu Wladimir Tatarnikow in Verbindung, dem Pfarrer der sechs Evangelisch-Lutherischen Gemeinden in Grodno und Umgebung. Ihre Anerkennung als öffentlich-rechtliche «Kirche» wird von Belarus mit der Begründung verweigert, dass dafür mindestens zehn Gemeinden nötig seien.
Das gilt auch für Freikirchen. Ihr selbstloser sozial-diakonischer Einsatz ist dem Staat jedoch willkommen und wird daher über die Grenzen seines restriktiven Religionsgesetzes hinweg geduldet. Das gilt besonders für die Hilfe an die so genannten «Kinder von Tschernobyl». Auch über 30 Jahre nach der Reaktorkatastrophe kommen in Belarus Kinder mit strahlengeschädigtem Erbgut zur Welt. Das manifestiert sich in verschiedenen Krebsleiden, besonders Leukämie. Um ihre Behandlung und Fürsorge kümmern sich die methodistischen Nazarener mit Unterstützung ihrer Mutterkirche aus New York.
Die Bibel auf baltisches Romanes
Eine Evangelisierungs- und Kulturleistung besonderer Art ist aus den Reihen der «Kirche der Brüder» hervorgegangen. Ihrem diskreten Wirken zur Sowjetzeit, das sogar vor der Roten Armee nicht Halt machte, war die Erweckung des jungen Offiziers Valdemar Kalinin zu verdanken. Nach der Wende wurde er zum Apostel der weissrussischen Roma. Der sprachkundige Kalinin machte sich mit Unterstützung der Vereinigten Bibelgesellschaften in London an die Übersetzung der Bibel. Diese liegt von ihm heute in ihrer Gesamtheit auf baltisches Romanes vor.
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Datum: 03.09.2020
Autor: Heinz Gstrein
Quelle: Livenet