«Ein erster Schritt auf einer langen Reise!»
Politiker und Kirchenvertreter sprachen von einem historischen Schritt, als der türkische Premier Recep Erdogan kürzlich sagte: «Die Zeit dass Menschen in unserem Land wegen ihrem Glauben, ihrer ethnischen Herkunft oder ihrer Kleidung unterdrückt werden, ist vorbei.» Christen und Juden im Land würden besser gestellt und über 1000 Gebäude zurückgegeben, die einst enteignet wurden. Das war vor zwei Wochen. Wir sprachen mit Barbara Baker darüber, was diese Ankündigung bedeutet und wie ihn die türkische Öffentlichkeit aufgenommen hat. Baker ist Nachrichtenchefin des Nahostbüros der Agentur «Compass Direct» mit Sitz in Istanbul.
Interview mit Barbara Baker
Livenet: Barbara Baker, wie schätzen Sie den Symbolwert des Regierungsbeschlusses ein?
Barbara Baker: Ich denke, dass er sehr bedeutungsvoll ist. Die EU forderte diesen Schritt, und in welchem Ausmass er auch umgesetzt wird, er ist wichtig. Es war ein Erlass der Regierung, nicht des Parlaments, und sie verhielt sich sehr clever. Sie verkündete ihn während der Ferienzeit an einem hohen Feiertag, auch ich konnte in dieser Zeit niemanden erreichen.
Es werden also noch Reaktionen kommen. Meine muslimischen Nachbarn vertreten die gängige Meinung, dass es eine gute Sache ist, weil etwas verbessert wird, das in der Vergangenheit falsch lief. Aber sie wollen nicht, dass die Regierung dabei zu viel Geld ausgibt.
Ich selbst mag die Worte eines armenischen Kommentators, der schrieb «es ist ein enorm grosser Schritt in die richtige Richtung einer sehr langen Reise.» Es wird eine lange Reise.
Bis wann kann man mit der Umsetzung der Beschlüsse rechnen?
Die Rückforderungen können nun während einem Jahr eingegeben werden. Es sind aber zum Teil sehr komplizierte Prozesse, und die juristischen Mühlen drehen sich langsam, es wird mehrere Jahre dauern. Es geht um 1400 konfiszierte Anwesen. Die Rückgabe armenischer Grundstücke ist beispielhaft, da spielt auch das Thema des armenischen Genozids mit rein. Es kann im konkreten Fall schwierig werden, wen auf dem Grundstück inzwischen ein grosses Fussballstadion steht oder die Polizei in einem früheren Kirchengebäude ihr Hauptquartier eingerichtet hat. Auch haben viele Armenier die Türkei inzwischen verlassen.
Rechnen Sie mit einer schwierigen Aufarbeitung?
Was nicht hinterfragt wird, ist die Rückgabe von Friedhöfen, auch wenn da nicht alles möglich ist. Eine grosse Strasse beispielsweise mit mehreren Fünf-Sterne-Hotels im europäischen Teil Istanbuls hat zum Beispiel einen Boulevard, der auch aus früheren Grabsteinen gefertigt wurde.
Andere Dinge können einfacher zurückgegeben werden. Die Juden verhalten sich dabei stiller als die Christen. Sie werden von guten Anwälten vertreten um zurückzuerhalten, was möglich ist. Es gibt aber sehr komplizierte Fälle, und ich erinnere an die Morde in Malatya. Die Aufarbeitung dauert da mittlerweile mehrere Jahre, alle paar Monate wird wieder verhandelt.
Wie wird sich der neue Beschluss auf die Religionsfreiheit für Juden und Christen auswirken?
Ich denke, wenn das Parlament im nächsten Monat wieder tagt, wird sich etwas ändern. Bisher war klar, dass ein Türke automatisch ein Muslim ist. Aber das Bewusstsein kann steigen, wenn Leute sagen: «Wir sind Christen und wir sind Türken!» Als die Leute in Malatya starben, dachten hier viele, dass die Opfer Griechen oder Armenier waren. Sie waren schockiert, als sie hörten, dass es Türken waren, weil ein Türke ja ein Muslim ist.
Auch wenn es legal ist, seinen Religionseintrag auf der ID-Karte zu ändern, ist es nicht sehr willkommen, wenn man den Islam verlässt. Die christliche Gemeinschaft wächst, aber sie ist den Menschen fremd. Wenn irgendwo eine neue Kirche gebaut werden soll, löst es Befremden aus, die Leute fragen, warum man denn Kirchen brauche. Es dauert, bis das Bewusstsein da ist.
Eigentlich ist der Staat säkular, aber es gibt viele Restriktionen. Die Entscheidung hilft, aber es ist erst ein kleiner Schritt.
Wird Gemeindebau in der Türkei in Zukunft einfacher sein?
Studenten verstecken manchmal ihren jüdischen oder christlichen Hintergrund, weil sie die einzigen in ihrer Klasse wären. Kürzlich wurde erstmals ein Armenier ins Parlament gewählt, das ermutigt die Christen und zeigt, welche Rolle sie spielen können, auch wenn sie eine sehr kleine Minderheit sind. Sie können sich etwas freier fühlen, und ich denke, dass die Regierung, die religiöser geworden ist, etwas mehr Respekt gegenüber der Religion hat, auch um anderen Plätze zum Anbeten zur Verfügung zu stellen.
Es gibt immer wieder Diskriminierungen, aber es wird auch öfter darüber berichtet, und das bietet Schutz. Die Diskussion ist öffentlicher geworden. Aber es gibt Elemente in der Gesellschaft, die besorgt sind, dass Nicht-Moslems zu viel Einfluss bekommen könnten. Mein islamischer Nachbar versucht mich immer wieder mal vom Islam zu überzeugen, weil es die letzte Offenbarung Gottes sei. Gleichzeitig gibt sich die Türkei als moderates islamisches Land, gerade gegenüber Europa und den USA.
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Datum: 15.09.2011
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Jesus.ch