Ausser Thesen nichts gewesen?
Wittenberg, 31. Oktober 1517. Mit grossen Schritten eilt ein Mönch durch das sächsische Städtchen. Als er die Schlosskirche erreicht, holt er Hammer und Nägel aus der Tasche und befestigt mit wuchtigen Schlägen einen Bogen Papier an deren Tür, auf dem 95 Thesen gegen den Ablasshandel stehen. Bis dahin ist Martin Luther ein unbedeutender Theologieprofessor an einer kleinen Hochschule – jetzt wird er zum Reformator und Gründer der evangelischen Kirche. «Diese Hammerschläge hat ganz Europa gehört», heisst es später.
Eben nicht mit der Holzhammermethode
So oder ähnlich wird der Thesenanschlag Martin Luthers meist erzählt. Doch die früheste Beschreibung dieser Szene stammt wahrscheinlich von Philipp Melanchthon aus der Zeit nach Luthers Tod. Der Reformator selbst verfasste zwar die 95 Thesen, aber belegt ist nur, dass er sie am 31. Oktober per Brief an einige Bischöfe schickte und an seinen Vorgesetzten, den Mainzer Erzbischof Albrecht. Und er schrieb sie auf Latein, denn er suchte den innerkirchlichen Dialog. Hätte er die Zustimmung des Volkes gesucht, hätte er sicher deutsch geschrieben. Die Geschichte mit dem Hammer ist zwar plakativer und wirkt kämpferischer, allerdings spricht aus heutiger Sicht viel dagegen, dass sie sich tatsächlich ereignet hat.
Wenn Luther den Hammer gar nicht schwang, leistete er damit gleichzeitig einen wichtigen Beitrag zu christlicher Streitkultur. (Natürlich ist dies kein Argument für die eine oder andere Variante der Geschichte. Es ist ein kleiner Nebeneffekt, etwas, das wir aus heutiger Sicht vom Reformator lernen können.) Meinungsverschiedenheiten unter Christen wird es immer geben. Die Frage ist nur: Wie gehen wir damit um? Luther stellte sein Gegenüber weder bloss noch suchte er sich selbst Verbündete. Um es in heutigen Möglichkeiten auszudrücken: Er schrieb keine offenen Briefe, startete keine Facebook-Kampagne, gründete keine neue Bekenntnisbewegung. Er suchte vielmehr das direkte Gespräch, den Dialog, die Auseinandersetzung. Luthers Streit mit der Kirche bzw. dem Papst endete zwar nicht versöhnlich, aber sein Anfang bot immerhin die Chance dazu.
Verzählt, aber nicht verrechnet
Luther suchte das Gespräch. Und bald auch das Gespräch mit vielen. So liess er seine Thesen drucken.
Momentan werden die ersten Fassungen davon in der Berliner Staatsbibliothek ausgestellt. Schmunzelnd berichtet die «Welt» von den kuriosen Folgen des schnellen Drucks: Der Inhalt der frühen Thesendrucke stimmt überein, aber mit der Zählung taten sich die Drucker schwer. Mal gibt es Zahlendreher, mal geht die Reihe nach der 26. wieder mit der 17. These weiter, doch diese Fehler sind eher kosmetischer Natur.
Der Druck der Thesen mag ein Schnellschuss gewesen sein, ihr Inhalt dagegen war gut durchdacht. Nur wenige Monate später brachte Luther eine Kurzfassung und Zuspitzung seiner Thesen auf Deutsch heraus, seinen «Sermon von Ablass und Gnade», aber inhaltlich blieb er seiner Linie treu.
Die klassische Geschichte vom Thesenanschlag klingt zunächst nach einer Affekthandlung, doch auch mit der Formulierung seiner 95 Thesen leistete Luther einen Beitrag zu christlicher Streitkultur. Lange hatte er über ihrem Inhalt gebrütet, das Ganze notiert, mit anderen besprochen, verworfen und umformuliert. So war das Ergebnis eine fundierte Kritik. Um es in heutigen Möglichkeiten auszudrücken: Luther twitterte keine halbgaren Gedanken. Er wollte mehr als hohe «Klickraten» und schnelle Schlagzeilen. Sein Ziel waren tiefgreifende Veränderungen. Und die erreichte er.
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Datum: 09.02.2017
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet