«Die Flüchtlingskrise ist eine Chance»
Livenet: Was hat die Flüchtlingskrise in eurer Gemeinde bewirkt, wie habt ihr es erlebt?
Martin Bühlmann: Einerseits hat die Flüchtlingskrise direkte Auswirkungen auf das
Gemeindeleben; in der Vineyard Berlin gibt es jetzt viele Araber
und viele Besucher aus dem Iran und Afghanistan. Für mich ist aber viel
begeisternder, dass Deutschland durch Frau Merkel die Chancen erkennt,
die eine offene Gesellschaft trägt. Sie liess sich von der Not
dieser Menschen in Syrien, im Libanon und im Irak berühren und sagte: «Wir wollen
uns um sie kümmern», «Wir können das!», da kommt Vision und Kraft. Das
hat verschiedene Hintergründe: Einerseits ist Deutschland
wirtschaftlich – genau wie die Schweiz – darauf angewiesen, dass Menschen
einwandern, denn die grosse Chance ist, dass diese Menschen, wenn sie gut
integriert werden, zum Volkwohlstand beitragen. Es hat also ganz
natürliche Hintergründe. Es ist nicht nur eine Mitleidskultur, sondern
ein Bewusstsein: Wir brauchen Einwanderung, sonst können wir als Staat
nicht überleben.
Aber man muss natürlich den Grössenvergleich sehen: In Deutschland sind 1 Million Flüchtlinge angekommen, in der Schweiz wäre das proportional 100'000 Menschen. Wir haben in der Schweiz bereits Probleme mit 20'000 oder 30'000 – ich weiss nicht, was in der Schweiz passieren würde mit 100'000... Ich nehme aber in unserem Freundeskreis in Berlin und unter dem Volk wahr, dass wir weit weg sind von einem «Asylchaos» oder «Flüchtlingschaos». Deutschland hat ein Chaos in der Verwaltung, dass sie mit der Arbeit nicht nachkommen, aber die Bereitschaft vom Volk, Flüchtlinge aufzunehmen, ist nach wie vor gross und das, was man in den Nachrichten in der Schweiz von den Unruhen hört, ist marginal. Ich bewundere die Deutschen für die Haltung, die sie bei diesem Thema haben.
Man kann häufig eine gespaltene Haltung bei den
Christen beobachten, ob man sich jetzt öffnen sollte oder sich damit überfordert...
Ich denke, das Kernproblem in der Gesellschaft unter Christen heute ist,
dass wir mit Ideologien, Schlagworten und Meinungen arbeiten und gar
nicht auf den Kern der Herausforderung eingehen. Ich
bin überzeugt, dass die Angstmacherei vor dem Islam vollkommen deplatziert
ist. Die Menschen, die vor einem fundamentalistischen Islam flüchten,
sind alles andere als Islamisten und fragen uns: Was für einen Glauben
habt ihr? Wenn es heisst, die evangelischen Kirchen
sagen, den Flüchtlingen soll man das Evangelium nicht verkünden, dann denke ich, dass
da eine massive Form des Rassismus betrieben wird.
Erlebt ihr auch, dass Muslime in der Vineyard zum Glauben kommen?
Nicht nur in der Vineyard. Das beste Beispiel ist wohl eine
altlutherische Kirche, in der in den vergangenen 12-18 Monaten 1'800 Muslime
zum Glauben gekommen sind (Livenet berichtete). Aber auch in der Vineyard, ich würde sogar sagen in jeder Gemeinde geschehen solche Dinge.
Ich bin als Christ überzeugt, dass Gott die Muslime nach Europa schickt als riesige Chance, ihnen das Evangelium zu vermitteln. Ich bin ebenso überzeugt, dass viele dieser Menschen lieber wieder zurückgehen würden. Sie wollen nicht den Rest ihres Lebens in dieser Kälte bleiben. Sie wünschen sich Schweizer Verhältnisse in Syrien.
Und wenn es in den nächsten 20 Jahren in diese Richtung geht, ist es eine grosse Chance für uns, das Evangelium durch Rückkehrer in diese Länder zu bringen. Das passiert übrigens auch mit Albanern. Es gibt eine relativ grosse Anzahl Albaner in Deutschland, die zum Glauben gekommen sind. Albanien wird nun als sicheres Land dargestellt und das gibt uns die Chance, mit den albanischen Rückkehrern das Evangelium nach Albanien zu bringen.
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Datum: 06.01.2016
Autor: Florian Wüthrich / Anja Janki
Quelle: Livenet