Sieben Worte vom Kreuz

«Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun»

Auf Golgatha sprach Jesus die Worte: «Vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun»
Wer wusste eigentlich was (nicht)? Von wem sprach Jesus und wussten sie es wirklich nicht? In diesen Tagen beschäftigen wir uns mit den sieben Sätzen, die Jesus am Kreuz sagte. Fabian Vogt schreibt über das erste Wort «Vater, vergib ihnen...».

Was für ein berühmter Satz: «Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.» Spätestens seit dem daran angelehnten Film mit James Dean kennen auch Menschen ausserhalb der kirchlichen Kultur­blase diese markigen Worte. Und wer mit den Hintergründen vertraut ist, die oder der begreift sofort, wie einzigartig dieser Satz ist: Denn Jesus, der ihn spricht, hängt dabei am Kreuz – nachdem er eben noch verspottet, geschlagen, gedemütigt und schwer gefoltert wurde... nachdem ihn einige seiner besten Freunde verraten haben... und nachdem ganze Menschenmassen gebrüllt haben: «Kreuzigt ihn»... Da hängt er an einem Holzbalken und sagt als erstes: «Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.»

Unglaublich, oder? In einer Situation, in der vermutlich jeder andere Mensch fluchen, schimpfen, schreien oder jammern würde, bittet Jesus liebevoll für seine Peiniger um Ver­gebung. Fleht quasi für sie bei Gott um Gnade. Wünscht ihnen Gutes. Und ich frage mich sofort selbstkritisch: «Könnte ich das?» Beziehungsweise: «Wollte ich das überhaupt?» Denn an­gesichts dessen, was die Menschen Jesus rund um die Kreuzigung ange­tan haben, kommt sofort die Frage auf: Müsste ich dann nicht jeder und jedem vergeben? Vergewaltigern, Serien­tätern, Kriegsverbrechern, Drogen­händlern, Kinderschändern, Massen­mördern? Das ist schwer zu ertragen. Und ich ahne: Ich könnte das nicht. Und vielleicht kann Jesus es auch nicht, denn er überlässt das Vergeben offensichtlich Gott. Er, der so oft in Gottes Namen gesprochen, gehandelt und auch vergeben hat, legt in diesem Fall das Schicksal der Menschen in Gottes Hand.

Andererseits ist Jesus mit seiner Bitte ganz konsequent. Immerhin hat er in der Bergpredigt von den Zuhö­renden sehr deutlich gefordert: «Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen.» (Matthäus Kapitel 5, Vers 44). Genau das macht er in der schlimmsten Stunde seines Lebens und zeigt damit, dass er das, was er gelehrt hat, auch lebt: Er betet für diejenigen, die ihn ans Kreuz gebracht haben, er bittet für die, die ihn verfolgen. Ändert das irgendwas an seiner Situation? Äusserlich: Wohl kaum! Aber innerlich. Und wie! Denn es zeigt, dass Jesus ein himmlisches «Ja» zum Leben in sich trägt, das sich selbst von den widerwärtigsten «Neins» nicht zerstören lässt. Diesem Ja möchte ich gerne ein bisschen nachspüren.

Vergebung ist die grösste Kraft des Universums

Jesus weiss, dass Hass Menschen zer­stört. Darum hat er in allem, was er getan hat, den Hass mit der Liebe kon­frontiert. Weil Hass uns gnadenlos unserer Freiheit beraubt. Hass zwingt uns nämlich, uns in Gedanken immer und immer wieder mit denjenigen zu befassen, die uns Übles getan haben. Und genau damit, erst damit verleihen wir diesen Leuten eine zerstörerische Macht über uns. Wer sich von seinem Hass bestimmen lässt, der gibt auch dem damit verbundenen «Nein zum Leben» Raum. Grauenhaft. Jesus zu­mindest macht es anders: Statt seine Peiniger zu hassen, sorgt er sich um sie. Er lässt sich auf das zerstörerische Spiel von Wut und Vergeltung nicht ein, sondern steigt aus der Spirale der Gewalt kurzerhand aus. Indem er den Menschen Gottes Vergebung wünscht, erklärt er zugleich: «Meinen Hass bekommt ihr nicht!»

Im Grunde kann man sagen: Jesus stirbt am Kreuz als ein Versöhnter. Er nimmt seinen Ärger, seinen Schmerz, seine Ohnmacht nicht mit ins Grab, sondern überwindet sie. Und er lässt sich nicht von der Situation lähmen, sondern wird aktiv. Denn jemand, der Gott in einer solchen Weise um Verge­bung für seine Feinde bitten kann, der ist nicht ohnmächtig, der handelt. Er lässt sich nicht von den negativen Ein­schränkungen bestimmen, die er in diesem Moment erleben muss, sondern von der himmlischen Weite, die in ihm wohnt. Man könnte auch sagen: So jemand lebt in einem Zustand der Gnade – was sich daran zeigt, dass er anderen die Gnade Gottes wünschen kann.

Wen meint Jesus?

Stellt sich nur die Frage: Wussten die Menschen um Jesus herum wirklich nicht, was sie taten? Wussten die­jenigen, die Jesus ans Kreuz schlugen, etwa nicht, dass es höllisch weh tut, wenn einem jemand Nägel durch Handgelenke und Füsse treibt? Natürlich wussten sie das! Das kann man gar nicht nicht wissen. Generationen von Theologinnen und Theologen haben deshalb versucht, für diese spe­zielle Formulierung des «Wortes vom Kreuz» Erklärungen zu finden. Meint Jesus vielleicht, dass die Leute nicht wissen, dass er der Sohn Gottes ist? Sehr unwahrscheinlich, schliesslich erinnerten sogar die Römer mit ihrem Schild «Jesus von Nazareth. König der Juden» alle Anwesenden daran, dass hier eventuell der verheissene Messias des Volkes Israel hingerichtet wurde.

Vielleicht geht es aber auch um etwas ganz anderes: Nämlich darum, dass jede und jeder von uns Dinge tut, deren Konsequenzen sie oder er nicht absehen kann. Dass wir alle eine Ver­antwortung haben, der wir nicht ge­recht werden. Dass wir, zum Beispiel, durch unser Konsumverhalten selbst­verständlich mitverantwortlich sind für den Klimawandel... für den Hunger in der Welt, für die Flüchtlings­ströme und die Ausbeutung ganzer Völker. Wir wissen es nicht, weil wir es nicht wissen wollen.

Tatsächlich wird in dem Satz «Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun» überhaupt nicht deutlich, wen Jesus dabei vor Augen hat. Meint er die Jünger, die ihn verraten haben, die Sol­daten, die einen mörderischen Auftrag erfüllen... oder eben alle Menschen, die «nicht wissen, was sie tun»? Ja, könnte es sein, dass auch wir es bitter nötig haben, dass Jesus für uns bei Gott eintritt und für uns um Vergebung bittet? Die frühen Christinnen und Christen zumindest waren davon fest über­zeugt. Sie glaubten, dass wir alle Jesus als Fürsprecher bei Gott brauchen. Er sitzt zur Rechten Gottes und legt dort ein gutes Wort für uns ein.

Wenn Vergebung konkret wird

Welche Kraft Vergebung haben kann, habe ich vor einigen Jahren bei einem nachhaltigen Silvestergottesdienst im Vordertaunus erlebt. Es ging im Predigttext um Vergebung und ich dachte auf der Kanzel plötzlich: «Jetzt habe ich viele Gedanken zur Bedeutung von Vergebung zum Besten gegeben, aber eigentlich geht es doch darum, dass dieses Thema konkret wird.» Also habe ich (vom Manuskript abweichend) spontan gesagt: «Dieses Jahr hat noch rund fünf Stunden. Ist doch eigentlich eine Chance, mal zu überlegen: Wem könnte ich vergeben? Und: Was müsste passieren, damit ich ver­söhnt ins neue Jahr gehen kann?»

In der darauffolgenden Woche bekam ich lauter Mails von Menschen, die diesen Schritt tatsächlich gewagt haben, die den Mut aufgebracht haben: von einem Mann, der zwanzig Jahre lang wegen einer Erbstreitigkeit mit seiner Schwester kein Wort mehr gesprochen hatte und jetzt mit ihr verab­redet war... Von einer Frau, die ihrem Vater nie vergeben konnte, dass er den Bruder immer vorgezogen hat, und die erstmals offen mit ihm darüber spre­chen konnte... Von einem Paar, das schon getrennt war und nun beschloss, es noch mal miteinander zu versuchen. Vergebung verändert Leben.

Das Geheimnis der Vergebung besteht darin, dass ich dadurch dem Ja zum Leben Raum gebe – während Hass immer das Nein stärkt. Jedes Ja zum Leben macht uns lebendiger, jedes Nein tötet etwas in uns. Insofern überwindet Jesus den Tod nicht erst in der Auferstehung. Nein, er überwindet ihn schon in dem Moment, in dem er Gott um Gnade für die Menschen um sich herum bittet... der Moment, in dem er irgendwie auch für uns bittet: «Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.»

Zum Autor:
Dr. Fabian Vogt ist Theologe und Künstler 
und arbeitet mit einer halben Stelle bei midi, der Zukunftswerkstatt für Kirche und Diakonie in Berlin.

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Datum: 16.03.2024
Autor: Fabian Vogt
Quelle: Magazin Aufatmen 1/2024, SCM Bundes-Verlag

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