Zerstört, verbrannt und doch entziffert
Heute kann man auf den Vesuv fahren und die letzten Meter zum Gipfel laufen. Dort oben kann man gegen Eintritt einen Panoramablick über den Golf von Neapel geniessen und gleichzeitig einen Blick in den Krater des aktivsten Vulkans auf dem europäischen Festland werfen. Schönheit mit Gruselfaktor. Am 24. August des Jahres 79 kam es zum verheerendsten Ausbruch des Vesuvs. Die Städte Pompeji und Herculaneum wurden dabei vollständig zerstört, Tausende Menschen starben. Ausserdem wurde in der Villa des Piso eine Bibliothek mit ca. 1'800 Schriftrollen zerstört – die meisten wurden von heisser Asche bedeckt und verkohlten dabei mehr oder weniger. Da es sich um die einzige erhaltene Bibliothek des antiken Roms in Italien handelt, versuchte man schon früh, die gefundenen Schriftrollen wieder zugänglich zu machen. Einige wurden beim Versuch, sie zu öffnen, völlig zerstört. Im 18. Jahrhundert entwickelte ein Mönch ein System, weniger beschädigte Rollen vorsichtig zu öffnen, aber die meisten Schriftrollen schienen unlösbar verklebt.
Die «Vesuvius Challenge»
In letzter Zeit kam jedoch Bewegung in die Erforschung der antiken Schriften. 2015 entwickelte Professor Brent Seales ein verfeinertes Röntgenverfahren, bei dem ungeöffnete Schriftrollen schichtweise aufgenommen und danach virtuell entrollt werden konnten. Er begann dieses Verfahren mit einer verbrannten Levitikus-Rolle (das 3. Buch Mose), die im israelischen En Gedi gefunden worden waren. Die Bibliothek von Herculaneum hielt jedoch eine weitere Schwierigkeit bereit: Bei ihren Rollen wurde Tinte auf Russ-Basis verwendet, die sich chemisch praktisch nicht von den verkohlten Seiten abhob.
2019 konnte das Team um Seales sein Verfahren noch einmal verbessern und stellte der Weltforschungsgemeinschaft im März 2023 neue Daten zur Verfügung. Noch war nichts entziffert, doch die Archäologen verkündeten: «Nach 275 Jahren ist das uralte Rätsel der Papyri von Herculaneum auf ein Softwareproblem reduziert worden – eines, bei dessen Lösung Sie helfen können!» Dazu lobten sie Preisgelder von zusammen einer Million Dollar aus. Ihre «Vesuvius Challenge» (die Vesuv-Herausforderung) ist bereits erfolgreich. Erste Worte und Zeilen sind inzwischen lesbar. Der US-Student Luke Farritor und der Berliner Student Youssef Nader konnten nach unterschiedlichen Verfahren das erste zusammenhängende Wort entziffern: ΠΟΡΦΥΡΑϹ – Porphyras, das bedeutet Purpur. Wem es gelingt, mindestens vier Spalten Text aus den beiden Schriftrollen von Herculaneum zu entziffern, der gewinnt den Hauptpreis des Wettbewerbs von 700'000 US-Dollar.
Unlesbarkeit und der Segen von KI
Medienwirksam und mit vielen teils berechtigten Ängsten wird immer wieder vor den Gefahren künstlicher Intelligenz (KI) gewarnt. Doch auch Forschungsergebnisse wie diese sind nur aufgrund von KI möglich. Bereits vor Jahren beschrieb das Wissensmagazin «scinexx» das Problem des Entzifferns: «Es gleicht dem Versuch, ein verbranntes Stück Blätterteigrolle möglichst ohne Beschädigung wieder zu entrollen… Das fragile Material ist schwarzbraun verfärbt und lässt mit blossem Auge keinerlei Text mehr erkennen.» Im vorliegenden Fall geht es darum, die grossteils zerstörten Schriftrollen nicht nur immer wieder mit bildgebenden Verfahren zu durchleuchten, sondern Algorithmen zu entwickeln, nach denen die Inhalte sicht- und lesbar dargestellt werden können. Hierzu ist eine lernfähige Software nötig – die sogenannte KI. Trotzdem liegen hier sensationelle Erkenntnisse und unendliche Geduld dicht beieinander.
Folgen für die Bibelwissenschaft
Die Grundidee zum virtuellen Abrollen der antiken Schriften entstand nach dem Durchleuchten biblischer Bücher, die sich in einem ähnlichen Zustand wie die Schriftrollen aus Herculaneum befinden. Tatsächlich gibt es nur wenige Bibelteile, die am Stück erhalten sind. Einige bestehen aus grösseren Einzelteilen, doch viele müssen aus kleinsten Papyrusschnipseln rekonstruiert werden oder sie sind verharzt, verklebt oder verkohlt. Solch einen Fund machten Archäologen 1970 in den Ruinen einer Synagoge in En Gedi. Um das Jahr 600 war das Gebäude verbrannt worden, doch einige zerdrückte und verbrannte Schriftrollen wurden dort entdeckt. Jahrzehntelang war es ausgeschlossen, sie zu öffnen bzw. zu lesen. Mit den neuen Verfahren von Professor Brent Seales ist nun möglich. «scinexx» berichtet: «Damit ist dies die älteste Kopie eines Bibeltextes aus den fünf Büchern Mose, die je in einer Synagoge gefunden wurde.»
Die weltbekannten Qumran-Rollen sind noch 100 bis 400 Jahre älter, doch Seals hält fest: «Die En Gedi-Schriftrolle liefert uns damit eine wichtige Ergänzung zu den Schriftrollen vom Toten Meer.» Sie schliesst eine fast 800 Jahre dauernde «Lücke des Schweigens» bis zu den nächstjüngeren Textzeugen, die aus Kairo aus dem 9. Jahrhundert nach Christus stammen. Die Ergebnisse zeigen eine sehr hohe Übereinstimmung mit den bereits bekannten Texten und unterstreichen die sorgfältige Überlieferung der biblischen Botschaft. Weitere Funde können noch mehr Licht in eine Zeit bringen, in der nur wenig aufgeschrieben wurde und aus der noch weniger erhalten ist.
Zur Website:
Vesuvius Challenge
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Datum: 01.11.2023
Autor:
Hauke Burgarth
Quelle:
Livenet