Lichtblicke 2015: Engagement gegen Menschenhandel
Im Laufe eines Jahres entstehen die verschiedensten Texte: aktuelle Nachrichten, nette Geschichten, Andachten, Reportagen. Für mich persönlich ist es dabei sehr spannend, Menschen zu begegnen. Menschen, deren Glaube Auswirkungen hat, die über Kirche und Gemeinde hinausgehen, und die damit unsere Gesellschaft prägen.
Besonders inspirierend war für mich das Interview mit Shannon von Scheele. Die junge Wahl-Berlinerin engagiert sich in einem Bereich, den viele lieber ausblenden würden: Sie hilft Prostituierten, engagiert sich gegen modernen Menschenhandel und geht mit Präventionsprogrammen an Schulen und zu jungen Menschen. Es begeistert mich und fordert mich gleichzeitig heraus, wie Shannon von Scheele während ihres Studiums Prostituierte getroffen, sie in ihrer Menschlichkeit und Not gesehen und dabei ihre Berufung gefunden hat. Bei ihrem Engagement kapituliert sie nicht vor scheinbar übermächtigen Gegnern und Umständen. Und sie verweigert sich jeder Sensationslust.
In der Bibel ist immer wieder die Rede davon, wie selbstverständlich Jesus mit Zöllnern, Sündern und Prostituierten umging. Diese Selbstverständlichkeit wünsche ich mir auch. Denn wie gewinnt Gottes Reich besser Gestalt, als wenn wir die Ungerechtigkeiten der Welt angehen, als hätten sie keine Chance?
Hier geht's zum Artikel vom 5.3.:
Shannon von Scheele
«Warum ich mich gegen Menschenhandel engagiere»
Sklaven erkennt man nicht mehr am Halsring. Aber es gibt sie nach wie vor. Das weiss auch Shannon von Scheele aus Berlin. Bereits seit ihrem Studium engagiert sich die Christin deshalb gegen jede Form von Menschenhandel. Sie begann, im «Netzwerk gegen Menschenhandel e.V.» mitzuarbeiten, das zum Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (Baptisten) gehört. Inzwischen ist sie dessen Projektkoordinatorin. Ein Interview.
Livenet: Frau von Scheele, Sie engagieren sich im «Netzwerk gegen Menschenhandel». Was tut dieser Verein konkret?
Wir betreiben kein Schutzhaus oder ähnliche Einrichtungen, aber als
Hilfsorganisation geben wir Informationen zum Thema moderner
Menschenhandel weiter, an einzelne oder Gruppen, in Schulen oder in
Gottesdiensten. Der Schwerpunkt unserer Arbeit liegt auf Prävention.
Dazu bieten wir Workshops an und betreiben eine eigene Webseite: «Liebe ohne Zwang».
Hier können sich junge Leute zum Beispiel online darüber informieren,
mit welchen Maschen Zuhälter auch in unserer Nachbarschaft Menschen in
ihre Abhängigkeit bringen. Wer diese Tricks kennt, kann sich schützen.
Wie reagieren Menschen darauf, wenn Sie Ihren Beruf nennen?
Heute anders als vor zehn oder fünfzehn Jahren. Damals bin ich oft
Unverständnis begegnet. Viele dachten, so etwas gäbe es nicht, hielten
Berichte für übertrieben oder meinten: Eigentlich sind die Frauen doch
selber schuld… Inzwischen stosse ich auf grosse Offenheit und Akzeptanz.
Die meisten Leute haben von der Problematik des Menschenhandels gehört
und machen sich Gedanken darüber. Heute finden es die meisten, mit denen
ich darüber ins Gespräch komme, gut, dass ich mich hier engagiere.
Wie sind Sie persönlich auf die Menschenhandel-Problematik aufmerksam geworden?
Ich bin Amerikanerin. Während meines Studiums arbeitete ich ehrenamtlich
als Streetworkerin in der Grossstadt unter Prostituierten.
Vordergründig boten wir HIV-Tests und Kondome an – darüber hinaus aber
auch den Ausstieg aus dem Milieu. Menschenhandel und Zwangsprostitution
waren vorher für mich keine Themen gewesen, doch diese Zeit auf der
Strasse hat meine Augen dafür geöffnet. Ich habe Unvorstellbares
gesehen, das in meiner direkten Nachbarschaft passiert. Und ich habe die
betroffenen Menschen kennengelernt.
Was war Ihre erste Reaktion?
Ich war überrascht, dass die Mädchen, denen ich begegnete, so normal
waren. Ich merkte, dass es praktisch jeden treffen kann – und trifft!
Nachdenklich bin ich geworden, vor allem, was globale Zusammenhänge
angeht oder Geschlechterrollen. Damals lebte ich noch nicht lange als
Christin. Umso erstaunter war ich, wie negativ viele andere Christen
darüber dachten. Der ganze Bereich Prostitution war davon überschattet,
dass es um Sünderinnen ging – und von denen hatte man sich fernzuhalten.
Kaum jemand stellte Fragen nach Ursachen oder Hilfen.
Warum haben Sie sich entschieden, mehr zu machen?
Die persönlichen Begegnungen haben mich verändert. Ich habe mich weiter
informiert. Schnell habe ich gemerkt, dass ich erst an der Oberfläche
war. Es gab noch viel mehr als Zwangsprostitution: Zwangsarbeit zum
Beispiel, angetrieben von unserem (meinem!) Konsumverhalten. Als
Aufbaustudiengang wählte ich «Public Affairs», um das Thema zu
vertiefen. Ich wollte mich mit den Wurzeln menschlichen Handelns genauso
auseinandersetzen wie mit der politischen Ebene des Ganzen. Nach dem
Studium arbeitete ich in Berlin in einem Strassenprojekt mit und lernte
2006 die Arbeit vom «Netzwerk gegen Menschenhandel» kennen. Inzwischen
bin ich dort fest als Projektkoordinatorin.
Was freut Sie, wenn Sie mit Menschen über Ihre Arbeit ins Gespräch kommen?
Es freut mich, wenn Leute wachgerüttelt werden. Wenn sie ihre Augen
öffnen für die Realität und dann noch fragen: Was kann ich tun? Dabei
geht es mir weniger um grosse Entwicklungen. Nicht jeder kann oder soll
ein Schutzhaus für ausgestiegene Prostituierte gründen. Aber jeder kann
sich der Herausforderung stellen, eigene kleine Schritte tatsächlich zu
gehen, und nicht nur darüber nachzudenken.
Und was ärgert Sie?
Sensationslust. Wir werden immer wieder nach Kontakten zu «echten
Opfern» angefragt, mit möglichst drastischen Geschichten. Dem verweigern
wir uns, denn zum einen wollen wir diese Opfer schützen und zum anderen
wollen wir sie auch nicht lebenslang auf diese Opferrolle festlegen. Es
ärgert mich, wenn Menschen sich zurücklehnen und mich quasi auffordern:
Erzähl mir etwas Schlimmes. Ich will geschockt werden.
Sklaverei und Menschenhandel stehen in Europa seit 200 Jahren auf
der «schwarzen Liste», trotzdem boomt das Geschäft. Ist es nicht
umsonst, was Sie tun?
Ja, manchmal ist es frustrierend. Ich kenne die Momente, wo ich denke,
dass es nichts bringt. Aber andererseits arbeite ich in der Prävention.
Mein Ziel ist es, die Jugend zu erreichen, zu informieren, jungen
Menschen zu einem gesunden Selbstbild zu helfen, das sie vor
Abhängigkeiten schützt. Und ich merke ausserdem, wie gut es tut, dass
ich nicht die Verantwortung dafür trage, alle Menschen zu retten. Ich
tue meine Arbeit, so gut es geht, aber Gott trägt die Verantwortung
dafür, was am Ende herauskommt.
Haben Sie eine «schöne» Geschichte? Ein Erlebnis, das Sie motiviert?
Ich habe nicht das eine Erlebnis, das mich motiviert und begleitet. Aber
ich freue mich von Herzen, wenn eine Prostituierte den Ausstieg schafft
und einen neuen Anfang macht; wenn ein ehemaliger Menschenhändler
Christ wird und jetzt auf unserer Seite mitarbeitet; wenn Firmen
anfangen, fairen Handel als Wert zu sehen. Und ich freue mich über junge
Menschen, die sagen: «Menschenhandel – nicht mit mir!», weil sie Gottes
Perspektive gewinnen.
Auf der Webseite «Liebe ohne Zwang» bietet das Netzwerk gegen Menschenhandel Materialien, Schulungsangebote, Videos und die Möglichkeit zum persönlichen Kontakt.
Datum: 21.12.2015
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet