Ukraine-Krieg

Die orthodoxe Kirche steht Putin zu nahe

Die ukrainischen Bischöfe – und mit ihnen Religionsführer weltweit – haben den russischen Patriarchen Kyrill aufgerufen, sich für Frieden einzusetzen. Ohne Erfolg. Das hat auch historische Gründe. Und es muss dem Westen zu denken geben.
Patriarch Kyrill und Präsident Putin

Kyrill und das russische Regime von Vladimir Putin sind eng verbandelt. Dies stellt eine Perspektiven-Sendung von Radio DRS-2 vom Wochenende fest. Denn in der Ukraine sehen beide die Wiege der russisch-orthodoxen Kirche. Daher hat Patriarch Kyrill Aufforderungen, sich für Frieden einzusetzen, bisher ignoriert.

Doch in der Priesterschaft regt sich Widerstand. In der Ukraine vereint der Krieg die zuvor rivalisierende russisch-orthodoxe und die autonome ukrainisch-orthodoxe Kirche. Letztere hat sich 2018 von der moskautreuen Kirche getrennt.

Die eigene Existenz gefährdet

Die Priester und Bischöfe der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) haben mit der Aufforderung an Kyrill ihr Treueversprechen gegenüber dem Patriarchen gebrochen und müssen jetzt die Entlassung aus dem Kirchendienst und damit um ihre wirtschaftliche Existenz und diejenige ihrer Familien fürchten. So auch Metropolit Onufri, Leiter der moskautreuen russisch-orthodoxen Kirche in der Ukraine.

Ideologischer Kampf

Zur Erklärung der Lage schreibt der deutsche «Religionsphilosophische Salon» zu Recht: «In der westlichen, vor allem westeuropäischen Öffentlichkeit wurde und wird kaum wahrgenommen, welche ideologische Macht die Russisch-Orthodoxe Kirche als Stütze Putins hatte und hat, auch im Blick auf Putins Aggressionen gegen die Ukraine und letztlich gegen Europa.» Denn: «Die Russisch-Orthodoxe Kirche mit dem mächtigen Patriarchen und Putin-Vertrauten Kyrill I. in Moskau ist eine typische orthodoxe 'Nationalkirche'. Die Führungen dieser Nationalkirchen stellen das Interesse ihrer Nation über die Weisungen des Evangeliums.»

Religion wird gegen den Westen instrumentalisiert

Die ROK sieht sich mit Putin vereint in einem Kampf gegen westliche Aggression und Dekadenz. Die scharfen Sanktionen des Westens gegen Russland dürften diese Überzeugung nur noch verstärken.

Die Geschichte der ROK geht aber ausgerechnet auf die Ukraine, nämlich auf die Massentaufe, angeordnet durch Fürst Wladimir in der Kiever Russ (Altrussland) 988 zurück. Wladimir brauchte ein christliches Volk, um seine Heirat zu ermöglichen. Anlässlich seiner Vermählung mit Anna von Byzanz nahm Wladimir 987 den christlichen Glauben an. Das Christentum wird damit zur alleinigen Religion des Kiewer Grossreichs. Kiew wird zum neuen Jerusalem, wie später in der Geschichte dann Moskau als «drittes Rom» verklärt wird.

Denn nachdem alle christlichen Reiche gefallen sind, sieht sich Moskau vom 16. Jahrhundert an bis 1917 als drittes Rom und damit als Symbol der Standhaftigkeit. Das ist auch die Basis für das russische Sendungsbewusstsein wie auch für den russischen Imperialismus. Das Motto dafür lautet: Ein starker Staat, eine starke kirchliche Stütze und Gemeinschaft des christlichen Volkes, wie es Putin selbst unlängst formuliert hat.

Nur der Präsident ist noch vertrauenswürdiger

Heute vertrauen die Russen nur dem Präsidenten mehr als der Orthodoxie, sagen auch Historiker Die Kirchenleitung sucht die Nähe zum Staat – und umgekehrt. Putin besucht Gottesdienste, zündet Kerzen an und küsst Ikonen. Und er rühmt die Kirche dafür, dass sie zu jeder Zeit an der Seite des Volkes gestanden habe. Sie habe dem Volk Patriotismus, Glauben und die Kraft des Geistes vermittelt. Schon in den Kriegen von 1612, dem Vaterländischen Krieg von 1812 und 1941-45, dem Grossen Patriotischen Krieg.

Gegen dekadenten Westen verteidigen

Fazit: Das orthodoxe Russland muss sich stets gegen den Westen verteidigen. Nach dem skandalösen Auftritt von Pussy Riot in der Christi Erlöserkirche antwortete der angegriffene Patriarch Kyrill: «Wir werden beten für die historische Russ – von der Ostsee bis zum Pazifik.» Gegen das russische Volk werde ein Vernichtungskrieg geführt. Im Westen sei eine Industrie der moralischen Verkommenheit am Werk. Nur die Orthodoxie könne sich dem entgegenstellen.

Schon in der Ostukraine wäre eine «russisch-orthodoxe Armee» am Werk mit dem Ideal, ein Neurussland auf dem Fundament des russisch-orthodoxen Volkes und der Einheit der slawischen Völker aufzurichten.

Ein Krieg gegen die Eurokolonisation

Der Krieg gegen die Ukraine ist auch für militante Bewegungen in der Ukraine ein Krieg gegen Euro und Dollar und gegen eine Eurokolonisation. Sie beschwören einen Kreuzzug des Westens gegen die orthodoxe Zivilisation. Der Gegner ist ein wertevergessener aggressiver Westen, der sich von seinen christlichen Werten entfernt habe. Die ROK sei die letzte Bastion für die christliche Zivilisation. Sie sei berufen, die wahren christlichen Werte zu hüten.

Ein Anlass zur Selbstkritik?

Könnte das ein Anlass für den Westen sein, über seine eigene Identität nachzudenken, auch wenn dies angesichts der russischen Aggression vorläufig wenig naheliegend ist? Kann der Westen seinen Anspruch, Wiege der Demokratie zu sein, auf Dauer aufrecht erhalten, wenn er nicht über die geistlichen und geistigen Wurzeln seiner Freiheit uns seinem Anspruch, die Menschenrechte zu hüten, nachdenkt? Gerade für die Kirchen müsste dies ein Anlass sein, eine gesellschaftliche Diskussion anzuregen – über die wichtigen Solidaritätskundgebungen für die Menschen in der Ukraine hinaus.

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Datum: 08.03.2022
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet

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