Es gibt viele Facetten einer moralischen Kritik an der Geldwirtschaft. Nicht immer ist klar, worauf sie sich beziehen: auf menschliche Schwächen, gesellschaftliche Institutionen, Handlungsmotive, Handlungsfolgen oder auf alles zusammen. Gemeinsam ist den verschiedenen Formen dieser Kritik, dass sie an Erfahrungen mit der Geldwirtschaft anknüpfen, die unseren moralischen Intuitionen widersprechen. Vier Ausdrucksformen davon: · „Geld weckt Gier“ · „Das Geld kommerzialisiert soziale Beziehungen“ · „Durch Geld geweckte Begehrlichkeiten machen die Natur zum Ausbeutungsobjekt“ · „Internationale Finanzströme verursachen hohe soziale Kosten“ Lange Zeit galten wir als „Aktienmuffel.“ Man hat seine Ersparnisse auf ein Konto eingezahlt; Aktien haben nur wenige gekauft. Das unterschied uns von den Amerikanern, die schon lange ein Volk von Aktionären sind. Inzwischen befinden wir uns auf dem besten Wege, es auch in dieser Hinsicht den Amerikanern gleich zu tun. Die Globalisierung führt auch zu einer Standardisierung des Sparverhaltens. Wer sich nicht beteiligt an der Jagd nach dem schnellen Gewinn, gilt als der Dumme. Das Verhalten der Menschen hat sich dadurch geändert. Ihr Tagesablauf richtet sich inzwischen nach dem Rhythmus der Telebörse-Sendungen im Fernsehen. Mit kaum gezügelter Neugier verfolgen Frührentner die täglichen Dax-Notierungen, und es soll inzwischen Tausende von Frauenbörsenclubs geben, die Charts deuten und die Kursausschläge des Nemax interpretieren. Von einer „seelenverändernden Gier“ ist die Rede als einer Beigabe des Übergangs zum „Volkskapitalismus.“ Besorgt und offenbar auch etwas ratlos meint ein Psychologe: „Wir wissen heute noch nicht, wie dieser Input an Gift in den Seelen weiter wirken wird.“ Was hier beklagt wird, ist eine wachsende Geldgier, von der es heisst, sie werde durch die Aussicht auf einen leichten Gewinn im Wertpapierhandel geweckt. Es wird berichtet, dass das Schadensersatzdenken unter Bergsteigern wahrhaft pathologische Züge angenommen habe. Geht man zusammen am Seil, dann wird das offenbar nicht wie früher als ein Akt der Kameradschaftlichkeit gesehen, sondern als ein risikominderndes Zweckbündnis. Wenn irgend etwas schief geht, ist man schnell zu einer juristischen Klage bereit. Die Beziehungen zwischen Arzt und Patient, so lautet ein anderer Vorwurf, werden immer mehr einem ökonomischen Kalkül unterworfen, mit der Folge, dass sich die Schadenersatzklagen wegen falscher Behandlung häufen. Berühmt geworden ist ein Fall, der sich in Frankreich zugetragen hat. Der Vater eines 18jährigen Jungen hat das Krankenhaus auf Schadensersatz verklagt, in dem sein Sohn mit einer Behinderung geboren wurde. Die Ärzte des Krankenhausen hätten vor der Geburt eine falsche Diagnose gestellt. Bei richtiger Diagnose hätte er, der Vater, das Kind abtreiben lassen. Der Vorwurf lautet: Die „Herrschaft des Geldes“ zerstört moralische Tugenden; Kameradschaftlichkeit, Solidarität und Nächstenliebe werden dem monetären Kalkül geopfert. Der Ökonom H. Chr. Binswanger beschreibt folgenden Fall: Jahrhunderte lang lebten die sibirischen Volksstämme der Ewenken und Burjaten im Einklang mit der Natur. Auch die sozialistische Planwirtschaft hat sie nicht daran gehindert. Die Menschen haben gejagt und gefischt, was sie zum täglichen Leben nötig hatten. Ein ungeschriebenes Gesetz sagte: „Nimm so viel Fisch aus dem See, wie du zum Leben brauchst. Nimm keinen Fisch mehr. Die Natur will es so.“ Das habe sich schlagartig geändert, als Anfang der neunziger Jahre auch in diesem entlegenen Teil der Welt die Geldwirtschaft aufkam. Plötzlich seien neue Bedürfnisse entstanden, Begehrlichkeiten seien geweckt worden, und das Verhalten der Menschen habe sich geändert. Die Männer hätten begonnen, mehr zu fischen, als sie und ihre Familien zur Ernährung brauchten. Ein traditionelles Gebot sei gebrochen worden, das ein ökologisches Gleichgewicht stabilisiert habe. Mit dem Einzug der Geldwirtschaft begann – so Binswanger – die Ausbeutung der Natur. Seit einigen Jahren erleben wir eine stürmische Globalisierung der Finanzmärkte. Die Folge davon ist, dass heute gewaltige Geldsummen in Sekundenschnelle um den Erdball gejagt werden, um auch noch den kleinsten Zinsvorteil auszunutzen. Dies geschieht im Interesse der Kapitalanleger, die die beste Rendite für ihr Kapital suchen. Diese Finanzströme können sehr schnell ihre Richtung und ihren Umfang ändern. Was heute noch als sicherer Ort für eine rentable Geldanlage gilt, kann morgen schon von den „global players“ auf den Finanzmärkten verschmäht werden. Es braucht bloss das Vertrauen daran zu schwinden. Wenn einer von ihnen damit anfängt, folgen die Anderen nach; es kommt zu einem regelrechten „Herdenverhalten“. Das davon betroffene Land wird möglicherweise in eine schwere Finanzkrise gestürzt. Allen diesen Ausdrucksformen moralischer Distanzierung liegt eine Behauptung zugrunde, die man so formulieren kann: Mit der Entwicklung der Geldwirtschaft wächst die Geldgier; das Streben nach Gewinn erhält einen kräftigen Impuls und es beginnt, das Denken und Handeln der Menschen zu beherrschen. Personen werden immer ausschliesslicher in Geld bewertet; soziale Beziehungen werden kommerzialisiert; die Natur wird rücksichtslos ausgebeutet, neue Begehrlichkeiten entstehen und treiben Kapitalströme an, deren Unberechenbarkeit hohe soziale Kosten verursacht. Folgt man dieser Behauptung, dann verringert die Entwicklung der Geldwirtschaft die Chancen der Moral: Tugenden wie Nächstenliebe, Vertrauen, Kameradschaftlichkeit usw. werden verdrängt, die Bereitschaft zum Schutz der Natur und der sozial Schwachen geht verloren. Moral ist immer in einem bestimmten Menschenbild verankert. Es ist, kein Zufall, dass der Protest gegen die „Monetik“ häufig im Namen des Christentums vorgetragen wurde. Das im Christentum begründete Menschenbild verträgt sich nicht mit einer Fixierung menschlichen Denkens und Handeln auf monetäre Werte. Das Leben ist mehr als „die Speise“ heisst es in der Bergpredigt Jesu , mehr als ein gesicherter Vermögensbestand, eine hohe Rendite, ein cleveres Geschäft. Der Mensch lebt „nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, dass von Gott ausgeht“. Wer sich darauf einlässt, der sieht seine Würde als Mensch tiefer begründet als in einer monetär bewertbaren Leistung, und deshalb ist diese Würde auch unzerstörbar, wenn die eigene Leistungsfähigkeit schwindet oder gar nie in dem Masse vorhanden war, dass sie die Gesellschaft hätte honorieren können. „Ein Mensch verdankt seine Würde dem Zuspruch Gottes“: Was das bedeutet, wird wohl nirgends so deutlich wie in der Achtung und Selbstachtung eines behinderten Menschen. Ich habe von der Schadensersatzklage des Vaters eines Jungen gesprochen, der mit einer Behinderung geboren wurde. Für diesen Mann war das Leben des Sohnes offenbar ein Schadensfall. Man kann sich vorstellen, welche menschlichen Beziehungen sich daraus entwickeln. Diese Beziehungen werden anders aussehen, wenn man den Wert einer Person in dem Zuspruch Gottes begründet sieht, der jedem Menschen gilt, unabhängig von seiner in der Gesellschaft anerkannten Leistung. An einem anderen Beispiel formuliert: Der Versager, der nach 20 Semestern und 2 durchgefallenen Examina die Universität verlässt, ist in den Augen Gottes genau so geachtet wie der Überflieger, der sein Studium nach 7 Semestern mit 1,0 abschliesst. Eine in diesem Glauben verankerte Lebensauffassung macht souverän im Umgang mit Geld. Es wird zum „anvertrauten Gut“ und damit entsteht – bei aller Unvermeidlichkeit der Geldrechnung – ein distanziertes Verhältnis zu ihm. Es gibt übrigens viele Christen, die diese Distanz dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie – über Steuern und Sozialabgaben hinaus – ein Zehntel ihres Einkommens für kirchliche oder karitative Zwecke zur Verfügung stellen. Man wird unabhängiger vom Geld, wenn man sich davon löst. Die Sensibilität für einen moralisch verantwortungsbewussten Umgang mit dem Geld wird wachsen und natürlich auch für die Notwendigkeit zur Etablierung von Regeln, die ethisch verantwortbare Ergebnisse der Geldwirtschaft möglich machen. Damit ist nicht gesagt, dass es nicht auch andere Begründungen als die des christlichen Glaubens für ein moralisch sensibles Handeln in der Geldwirtschaft geben könnte. Zu fragen ist allerdings, ob wir nicht gerade in einer Periode der stürmischen Expansion finanzieller Möglichkeiten ein festeres Fundament für moralische Entscheidungen brauchen, Die Geldwirtschaft besitzt auch ethisch relevante Vorzüge: Sie kann Armut verringern, den Umweltschutz erleichtern, die menschliche Handlungsfreiheit erweitern und die humane Austragung von Konflikten fördern, um nur einige dieser Vorteile zu nennen. Angesichts der gegebenen Vorzüge wäre es ökonomisch unsinnig und ethisch unvertretbar, die Geldwirtschaft beseitigen zu wollen. Es geht vielmehr darum, ihre positiven Aspekte zur Geltung zu bringen und ihre Gefahren zu begrenzen. Dafür brauchen wir geeignete Institutionen. Sie können dem moralischen Handeln in der Geldwirtschaft eine Chance geben. Wie der Einzelne agiert hängt auch von der Motivation des Einzelnen ab, die wiederum verankert ist in der individuellen Auffassung von einem „guten Leben“ im umfassenden Sinne des Wortes. Ohne moralisch gefestigte Personen wird es weder möglich sein, die Geldwirtschaft auf ethisch verantwortbare Weise zu ordnen noch wird der persönliche Umgang mit Geld moralischen Kriterien genügen. Die Chancen der Moral in der Geldwirtschaft hängen also ab von der moralischen Überzeugung der Menschen und ihrer Entschlossenheit, dieser Überzeugung entsprechend zu handeln – im gesellschaftlichen und politischen Prozess bei der Bildung von Regeln und im persönlichen Bereich beim Umgang mit Geld innerhalb gegebener Regelsysteme. Wenn das gelingt, ist die Ethik nicht chancenlos gegenüber der Monetik.Geld weckt Gier
Das Geld kommerzialisiert soziale Beziehungen
Geld macht die Natur zum Ausbeutungsobjekt
Internationale Finanzströme verursachen hohe soziale Kosten
Das Leben ist mehr als eine hohe Rendite
Wird Ethik durch „Monetik“ verdrängt?
Datum: 03.02.2013
Autor: Prof. Dr. Hermann Sautter
Quelle: Institut für Glaube und Wissenschaft