«Liebe Mama….»
Als Kind konnte ich noch nichts sagen. Es war selbstverständlich, dass du als Mutter einfach da warst. Kannst du dich an die Zeit erinnern, als ich 13 wurde? Als Teenager baute ich Burggräben um mich und winkte dir, in Anwesenheit von Freunden, nur von Weitem zu. Wenn überhaupt. Und in der Ausbildung sass ich selbstsicher und unverdrossen in der Aula, und merkt gar nicht, dass das Selbstvertrauen und das Glücksgefühl auch von dir abhängig war, liebe Mama, weil du mir eine schöne sorglose Kindheit geschenkt hast. Ja, vor allem von dir.
Später, als ich eigene Kinder bekam, merkte ich am eigenen Leib, welch grosse Verantwortung auf einem als Eltern lastet. Und weiss auf einmal, dass gar nichts selbstverständlich ist. Da wird jedes Schoppenkochen zur abendlichen Last. Und jede Windel wird mit der Zeit zur papiernen Kloake. Doch das Herz wächst auch mit den Kindern, und wenn sie in den Kindergarten gehen und einem fröhlich zuwinken, dann geht einem das Herz auf. Dann ist man überglücklich und will die Kinder nie mehr hergeben. So einfach ist das.
Mütter sprechen eine andere Sprache. Die «Muttersprache» ist eine Sprache, die nur Mütter sprechen, weil sie den Kindern so nah sind und in einer Welt voller Hingabe und Gefühle für die Familie leben – eine für heutige Begriffe schwachsinnige Welt. Heute zählen Leistung, Umsatz und Fortschritt. Doch den Müttern ist das egal, wenn sie zu Hause sind und den Kindern den Rücken freihalten und nichts dafür bekommen. Sie tun es einfach, weil sie sie lieben und weil es selbstverständlich ist.
Ja, liebe Mama, als ich selber in diese «schwachsinnige», liebes- und nicht leistungsorientierte Welt des Mutterseins eintauchte, begann ich dich zu verstehen. Ich habe jetzt sogar gelernt, dass diese Welt verdammt anstrengend ist – nicht leistungsorientiert, aber sehr anstrengend, weil sie einem alles abverlangt, Tag und Nacht.
Das ist kein 8-17-Uhr-Job; es ist ein «Job» fürs Leben. Und nun liebe ich dich dafür, für deine starken – und in Teenagerjahren lästigen – Muttergefühle. Ja, ich danke dir dafür, dass du mich immer und überall abgeholt hast. Egal, in welchem Zustand ich war. Es war einfach selbstverständlich. Dafür danke ich dir, dass du diesen schlechtbezahlten Job für mich gemacht hast. Dafür hast du echt eine Auszeichnung verdient oder wenigstens ein Dankeschön am Muttertag.
Warum ich all das nur am Muttertag sage, weiss ich nicht. Es ist sicher eine blöde Angewohnheit. Oder es ist mir noch nicht ganz selbstverständlich, mit dir so frei zu reden und einfach danke zu sagen.Oder es ist einfach noch nicht ganz selbstverständlich, dir immer wieder danke zu sagen, liebe Mama.
Datum: 08.05.2010
Autor: Iris Muhl
Quelle: Jesus.ch