Vergeben heisst: göttlich grosszügig sein
Durch die Vergebung der Sünden macht der himmlische Vater Menschen wieder zu göttlichen Lichtwesen (1. Thess. 5,5), zu seinen Hausgenossen. Darum erwartet er und fordert es mit grossem Nachdruck, dass das Verhalten des Menschen licht und göttlich ist.Wem Gott so grosszügig begegnet, der darf seinerseits nicht kleinlich sein. Sind wir von oben her überstrahlt mit heller Güte, so kommt es uns nicht zu, als mürrische Finsterlinge einherzugehen. Es ist ein Zug unerhörter Hässlichkeit, unbegreiflich niedriger Gesinnung, wenn der, dem die Millionenschuld erlassen ist, seinen Mitknecht überfällt wegen hundert Groschen.
Durch die Vergebung erhebt Gott Menschen zu Königen und Priestern (1. Petr. 2,9). So sollen sie sich auch königlich und priesterlich geben und sich nicht als Krämer und Wucherer, als Schergen und Henker gebärden. Sie sollen es ihren Mitmenschen nicht auf Heller und Pfennig vorrechnen, was sie verbrochen oder unterlassen haben; sie dürfen nicht auf sie drücken wegen ihrer Schuld.
Durch kleinliche Gesinnung wird die göttliche Vergebung verscherzt
Unermesslich ist die Bereitschaft des himmlischen Vaters, zu begnadigen; aber an einem Punkt hört sein Wille zur Vergebung auf:- »Es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat« (Jak. 2,13).
- »So (das heisst, wie es dem Schalksknecht erging, der in den Kerker geworfen wurde) wird auch mein himmlischer Vater an euch tun, wenn ihr einander nicht von Herzen vergebt, ein jeder seinem Bruder« (Matth. 18,35).
- »Mit welchem Mass ihr messt, wird euch zugemessen werden« (Matth. 7,2). »Selig sind die Barmherzigen, denn sie (und nur sie) werden Barmherzigkeit erlangen« (Matth. 5,7).
- Und endlich das Vaterunser: »Erlass uns unsere Schulden, wie auch wir erlassen haben unseren Schuldigern.«
Unsere Schuldner sind nicht nur die, die uns ausdrücklich beleidigt haben, sondern alle Menschen, die uns etwas schuldig geblieben sind an Verständnis, an Rücksicht, an Hilfsbereitschaft, an Dankbarkeit, an Freundschaft, oder was es sonst sei. Es kommt uns zu, ihnen die Schuld zu erlassen.
Vergeben heisst: so tun, wie Gott tut, wenn er Schulden erlässt
Eine erlassene Schuld existiert nicht mehr. Der Mensch, dem wir vergaben, steht für uns ohne allen Tadel da; wir verhalten uns zu ihm, wie man sich zum reinsten, besten, liebenswertesten Menschen verhält. Alles, was Schuld und Sünde zwischen Menschen bewirken kann - Misstrauen, Dünkel, Kälte, Zurückhaltung - ist völlig verschwunden.Vergeben heisst nicht bloss: sich kränkender Worte enthalten, korrekt sein, gute Formen wahren. Vergeben heisst: so tun, wie Gott tut, wenn er Schulden erlässt. Vergeben bedeutet also: in seine Nähe ziehen, sich uneingeschränkt mitteilen, Herz und Gemüt öffnen zu voller Gemeinschaft, alle Hilfe und Teilnahme erweisen.
Vergeben ist kein Kompromiss
Wer vergibt, schliesst keinen Kompromiss; er fasst die Sache radikal an. Er greift zurück auf die ursprüngliche Nähe des Menschen zum Menschen. Vergeben heisst nicht: auf halbem Weg entgegenkommen.Der Vergebende fragt nicht ängstlich: wird er auch? Er hat den Mut, wenn es nötig ist, den ganzen Weg zu gehen zum grollenden Bruder und ihm die Hand zu reichen.
Die Vergebung ist die Lösung der sozialen Frage
Wo Menschen einander vergeben, da wird auch zwischen ihnen der Schutt der Jahrhunderte weggeräumt, die in den öffentlichen Zuständen herrschende Atmosphäre entgiftet, und die sonst Stand von Stand und Schicht von Schicht absperrenden Mauern werden niedergerissen.Die sozialen Forschungsinstitute und Kongresse, die Fürsorgegesetze und ungezählten Anstalten werden es gewiss nicht schaffen, wenn nicht etwas ganz anderes dazukommt. Die Vergebung ist die Lösung der sozialen Frage; sie ist der mächtige Angriff auf alle Übel des gemeinsamen Lebens.
Zucht üben am Bruder ist durch die Vergebung natürlich nicht ausgeschlossen. Gerade durch sie ist die Grundlage dazu gegeben.
Datum: 09.12.2009
Autor: Ralf Luther
Quelle: Neutestamentliches Wörterbuch