Kinderglauben

Für den Nachtisch beten?

Für den Nachtisch beten?
Eltern prägen den Glauben ihrer Kinder. Rituale wie das Tischgebet spielen hier ebenso eine Rolle wie der Umgang mit biblischen Geschichten.

«Gell Mama, für den Nachtisch muss man nicht beten», meinte vor einiger Zeit meine damals noch dreijährige Tochter nachdenklich. Angestrengt bemühte sie ihren kleinen Denkapparat. Das stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Vor dem Frühstück, Mittag- und Abendessen danken wir jeweils dem Herrn für die Mahlzeit, nicht aber fürs Dessert. Der – aus Sicht unserer Kinder – kulinarische Höhepunkt des Tages wird offenbar als eigenständige Mahlzeit betrachtet. Er bleibt aber vor Gott unerwähnt. Da fehlt doch etwas, und das fällt auf. Weil Mama und Papa sich aber nicht daran stören, geht das wohl in Ordnung so.

Erwartungen erfüllen

Die Aussage meiner Tochter stimmt mich nachdenklich. Sie gewährt mir hier auf süsseste Art einen Blick in die Facetten der Pädagogik. Kinder erschliessen sich ihre Umwelt aktiv. Sie versuchen, Regelmässigkeiten zu erkennen, die sie im Rahmen ihres Horizonts deuten und mit Sinn behaften. Sie lernen so aber nicht nur all die erlesenen Inhalte, die wir ihnen anschaulich zu vermitteln versuchen, sondern enträtseln darüber hinaus auch, was zwischen den Zeilen mitschwingt. So entwickeln sie unbewusst ein Gespür dafür, welches Verhalten in ihrer Umgebung offensichtlich erwünscht ist. Das geschieht in der Schule, beim Spielen mit Gleichaltrigen, im Zusammenleben mit Eltern und Geschwistern, aber auch in der Gemeinde. Sie eignen sich dabei ein sozial angepasstes Verhalten an. Sie nehmen wahr, welche Verhaltensmuster vom Umfeld akzeptiert werden, zielführend sind oder belohnt werden und welche sich in der Gruppe als ungeeignet erweisen, weil die anderen das nicht toll finden. Ein Kind merkt rasch, welche Rolle es spielen muss, um Erwartungen zu erfüllen. Diesen Erwartungen möchte eigentlich jedes Kind gerecht werden – zumindest in der Zeitspanne zwischen Trotzphase und Teeniealter.

In der Gemeinde und in christlichen Familien praktizieren wir besondere Umgangsformen. Sie leiten sich daraus ab, wie die biblischen Glaubensgrundsätze im jeweiligen Kulturkreis interpretiert, eingebettet und ausgestaltet werden. Unsere Kinder merken bald, welche ihrer Verhaltensweisen wir – oft unbewusst – verstärken, weil sie unserer christlichen Sphäre entsprechen. Sie werden in diesem spezifischen Kontext sozialisiert und lernen zunehmend, welche Sätze und Formulierungen gern gehört werden. Und auch, worüber niemals gesprochen wird, wann und wie gebetet wird… Kurzum, wie man sich am besten verhält, um innerhalb der christlichen Gemeinschaft möglichst gut bestehen zu können.

Das Wesentliche im Blick

Das ist grundsätzlich nicht verwerflich. Wir dürfen als Eltern und Bezugspersonen aber nicht aus den Augen verlieren, dass es nicht um gutes christliches Benehmen geht – weder bei unseren Kindern noch bei uns selbst. Wir alle brauchen das Heil in Jesus Christus. Darauf steuern unsere Kinder idealerweise zu, während wir sie auf dem Weg zur Mündigkeit begleiten. Ihre Entscheidung für die Hoffnung, die im christlichen Glauben liegt, können wir ihnen nicht abnehmen. Wir können aber unser Bestes tun, sie gut zu begleiten und vorzubereiten. Wir sollten uns und unseren Kindern immer wieder klar machen, dass es nicht um ein vorbildlich christliches Leben geht, sondern dass wir Vergebung und Erlösung brauchen.

Aber wie können wir unsere Kinder gut auf ihrem Weg begleiten? Indem wir achtsam ihren Kinderglauben prägen, zum Beispiel durch Geschichten. Die Auswahl an biblischen Geschichten, die wir ihnen erzählen, formt ihr Gottesbild. Viele Geschichten in der Kinderbibel handeln vom übernatürlichen Eingreifen Gottes: Gott ist Herr über die Naturgewalten. Wassermassen teilen sich, Regen bleibt aus und fällt dann wie bestellt. Jesus heilt Kranke und erweckt Tote wieder zum Leben. Gott bewahrt vor hungrigen Löwen und vor dem Feuerofen. Alles ist möglich. Gott tut Wunder. Jesus ist unser Held. Das stimmt. Halleluja!

Aber begegnet uns der Alltag nicht immer wieder von einer ganz anderen Seite? Er fühlt sich eher an wie damals bei den Jüngern im Boot, bevor Jesus dem Wind gebietet und die Wellen glättet. Es scheint, als wären wir mit den drei Freunden auf dem langen Weg zum Feuerofen. Sie waren gewiss, dass Gott sie retten kann vor den verzehrenden Flammen. Aber auch im Bilde, dass es durchaus sein könnte, dass er das am Ende vielleicht doch nicht tut. Hat wirklich keiner von ihnen dabei den Mut verloren? Vielleicht geht es uns ähnlich wie Hanna, die ein halbes Leben lang um ein Kind bittet und nicht weiss, wann und ob Gott ihr Gebet erhören wird. Manchmal herrscht eine grosse Diskrepanz zwischen unserem alltäglichen Glaubensleben und den dargestellten Ausschnitten des Glaubens in der christlichen Kinderliteratur.

Nahe am Leben bleiben

In unserem Alltag sind wir es gewohnt, auf Wünsche und Bedürfnisse rasch eingehen zu können. Warten und ausharren gehört seltener zu unserem Repertoire. Die Auswahl und die Aufmachung biblischer Geschichten, die unsere Kinder vornehmlich hören, passen oft gut in diesen Kontext. Eine Notsituation wird wenige Sätze später durch übernatürliches Eingreifen aufgelöst. Dass zwei Sätze aber die Spanne von vielen Jahren umfassen können, verstehen jüngere Kinder nicht. Hauptsache, Gott greift ein und alles wird gut. Darüber hinaus schildert die Bibel antike Geschehnisse oft schnörkellos und sachlich, kurz und bündig.

Beim Erzählen und Erklären der Bibelgeschichten bietet sich uns als Eltern und Bezugspersonen hier die Chance, den Fokus und den Erzählfluss zu bestimmen. Wir können beim Erzählen verweilen, gemeinsam nachdenken und uns in Personen hineinversetzen: Wie hat sich Hanna wohl gefühlt? Wie haben die Jünger diese Situation erlebt? Dabei können wir auch den Bogen spannen zu dem, was wir oder die Kinder selbst erlebt haben.

Hierin liegt die Chance, die Bibel und den Glauben lebensnah zu vermitteln. All die Krisen in den biblischen Geschichten bergen viel Potenzial und Anknüpfungspunkte. Wir sollten nicht schnell darüber hinweglesen, um rasch zur Auflösung zu kommen. Natürlich stimmt es, dass Jesus da ist. Und er greift ein, manchmal auf wundersame Art. Aber im Boot mit seinen Jüngern hat er erst einmal eine ganze Weile tief geschlafen.

Auf dem Prüfstand

Der Übergang vom Kinderglauben zu einem reifen, tragfähigen Glauben kann eine fragile Phase sein. In der Seelsorge ist es mir immer wieder begegnet, dass Jugendliche und junge Erwachsene einen Bruch im Glauben erleben, wenn sich der Kinderglaube nicht mehr als realitätsfähig und alltagsrelevant erweist. Wenn Gebete nicht in kürzester Frist erhört werden. Wenn die Eltern sich trennen, obschon beide gläubig sind. Wenn junge Erwachsene keinen Partner finden, obwohl sie Gott schon lange darum bitten. Wenn ein Familienmitglied an Krebs erkrankt und stirbt, statt durch ein Wunder geheilt zu werden. Wenn ein junger Mensch Opfer von Gewalt wird und Gott ihn nicht bewahrt hat.

Manchmal reicht es bereits, solche Ereignisse im Leben anderer zu beobachten. Wo ist nun der Jesus, der mit übernatürlicher Kraft immer alles unmittelbar zum Guten wendet? Junge Menschen wenden sich dann ab von Gott. Entweder sie verlassen die christliche Gemeinschaft oder sie trennen unbewusst das sakrale Leben am Sonntagmorgen vom alltäglichen Leben. Sie leben in zwei Welten. In der christlichen innerhalb der Gemeinde und in der alltäglichen ausserhalb. Der Glaube ist für sie nur noch praktizierte Kultur am Sonntagmorgen, ohne dass es jemand merkt. Die biblischen Geschichten ihrer Kindheit haben mit ihrer Lebensrealität scheinbar wenig gemein.

Zurück zum Nachtisch: Ich habe meiner Tochter erklärt, dass das Dessert als Anhängsel vom Mittagessen schon im Gebet mit inbegriffen ist. All inclusive. Vielleicht muss ich ihr bald erklären, dass Beten für die Seele so wohltuend ist wie der Nachtisch für den Geschmack. Ich bin schon gespannt, was dabei herauskommt. Wer weiss: Vielleicht werden wir in Zukunft auch speziell für den Nachtisch beten.

Zum Thema:
Das Tischgebet: Verlangt Gott von uns, vor dem Essen zu beten?
Jesus erinnerte daran: Fünf gute Gründe, mit den Kindern die Bibel zu lesen
Metro World Child: Wie Kindergebete ihre Umwelt verändern

Datum: 29.10.2024
Autor: Katharina Trummer
Quelle: Magazin Family 6/2024, SCM Bundes-Verlag

Verwandte News
Werbung
Werbung
Livenet Service