Er suchte Prajapati, den "Herrn der Menschen"
Die Götterstatuen im Hindutempel waren furchterregend. Jede hielt in der Hand eine Waffe. Die eine den Krummdolch, die nächste einen Hammer, die dritte Pfeil und Bogen und so weiter. Keine sah aus, als ob sie sich im Gebrauch ihrer Waffe nicht auskennen würde.
Der kleine Chellappa hatte Angst, wenn er in den Tempel ging. Und das war jeden Tag. Oft schon am Morgen früh, nicht selten bis zur Abenddämmerung. Denn Chellappas Familie gehörte zu den Brahmanen, dem Priesterstand, der höchsten Kaste der Hindus. Sein Grossvater war ein Guru. Es war zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Das Essen war dermassen knapp, dass der Junge an manchen Tagen nur abends eine Hand voll Reis erhielt. Einer der Priester fasste Zuneigung zu Chellappa und fragte ihn, ob er ihm beim Tempeldienst zur Hand gehen wolle. Der Knabe tat es.
Von diesem Priester und seinem Grossvater lernte er Mantras; darunter verstehen die Hindus Textabschnitte aus den Sanskrit-Schriften, Anrufungen von Göttern oder Gebete. Eines dieser Mantras sprach Chellappa jeden Morgen: «Gott, ich bin in Sünde geboren. Meine Taten sind die eines Sünders. Durch meinen Mund begehe ich Sünde. Mit meinen Augen begehe ich Sünde. Durch mein Reden begehe ich Sünde. Mein Magen verleitet mich zur Sünde ...» Und so ging das Gebet weiter, bis zu den letzten Worten: «Herr, ich weiss nicht, wie ich der Sünde entrinnen kann. Komme du und befreie mich vom Band der Sünde.»
Wenn er diese Worte gesprochen hatte, nahm er sein Bad und lief, entsprechend der rituellen Vorschrift, in nassen Kleidern zum Tempel. Dort begann er, in einem Sprechgesang Namahas zu rezitieren, Anrufungen von Göttern, die das Lob ihrer übernatürlichen Eigenschaften verkündeten. So handelte er während Jahren, doch was er sagte, verstand er nicht. Eine Frage liess ihm keine Ruhe: «Wenn mich der Tod ereilt, wohin geht dann meine Seele?»
Sprechgesänge hallten durch die Nacht
Als Chellappa zehn war, starb sein Grossvater. Die Priester des Tempels kamen ins Haus, ebenso befreundete Brahmanen, auch einige angesehene Gurus. Acht Tage lang rezitierten sie Mantras, Tag und Nacht, ohne Unterbruch, damit die Seele des Verstorbenen Frieden fände. Für Chellappa bedeutete das Freude und Trost zugleich. Nicht nur lag darin der Beweis, dass mit seinem Grossvater ein weit herum angesehener Mann dahingegangen war, er glaubte zutiefst, dass dessen Seele nun Frieden gefunden habe. So kam der Junge über seinen Schmerz hinweg.
Der Todestag jährte sich. Wieder kamen die Priester und Brahmanen. Genau wie im Jahr zuvor hallten ihre Sprechgesänge durch die Nacht. «Grossmutter, wozu beten sie?», wollte Chellappa wissen. «Die Seele von Grossvater ist schon lange im Himmel.» Die Grossmutter sah ihn an: «Das wissen wir nicht.» Eines Tages lief ein Hund durch die Haustür herein, schnappte sich einen Pantoffel, der einst Grossvater gehört hatte, und trottete davon, die Beute in der Schnauze. «Seht», rief Chellappa, «der Hund hat sich Grossvaters Schuh geholt.» «Lass ihn», sagte die Grossmutter, «vielleicht ist dein Grossvater jetzt ein Hund.»
Im Tempel erklärten ihm die Priester, die Seele nehme nach dem Tod eine neue Form des Lebens an. Welche? Tier, Vogel, Pflanze, Baum, Insekt oder Stein? Niemand vermochte es zu sagen. In der Schule, die Chellappa besuchte, lernte er Sanskrit, denn er wollte die heiligen Schriften lesen. Im Tempel hörte er die Lehren der Gurus. Einem dieser Lehrer diente er als Schüler, wusch seine Kleider, machte Einkäufe für ihn und hütete dessen Kinder. Das Gleiche taten auch die anderen Schüler. Im Gegenzug unterwies sie der Meister in Meditation und in den heiligen Schriften der Brahmanen. Sein Unterricht geschah mündlich. Der Guru trug vor, die Schüler merkten sich seine Lehren. Ergaben sich Fragen, beantwortete sie der Meister, und der Unterricht ging weiter.
«Lies die Veden»
Niemand stellte so oft Fragen wie der zum Teenager herangewachsene Chellappa: «Swami (1), wenn ich sterbe, wohin geht dann meine Seele?» Sein Guru wies ihn an, den Rig-Veda zu lesen. Diese älteste aller Sanskritschriften gilt den Hindus als das heiligste der Bücher (auch wenn heute das Ramajana oder die Bhagavat-Gita bekannter sind). Der Rig-Veda enthält Hymnen zu Ehren der Gottheiten der Arier, des altpersischen Adels, der das Industal vor über zweieinhalbtausend Jahren eroberte. Die Arier waren es auch, die später das Kastensystem einführten und sich als Brahmanen zur religiösen, intellektuellen und politischen Elite machten.
Und dieses Buch begann Chellappa nun zu lesen. Schon das erste Kapitel überraschte ihn. Die Gottheiten, die kultisch angerufen wurden, waren lauter Naturkräfte. Agni, das Feuer, Vayu, die Luft, Varuna, der Regen, Usha, der Tau. Das waren gar nicht Brahma, Vishnu und Shiva, jene Gottheiten, welche die Hindus heute am höchsten verehren. «Meister», stellte er seinen Guru zur Rede, «wenn der Rig-Veda unser heiligstes Buch ist, sollte ich dann nicht viel eher Varuna und Agni statt Vishnu und Brahma anbeten?»
Die Frage gefiel dem Meister nicht. - Eines Tages las Chellappa im neunten Kapitel des Yazur-Veda: «Jene, die Götzen und ihre Bildnisse anbeten, werden in die Dunkelheit eingehen.» Ein mulmiges Gefühl überkam ihn. «Wenn der Mann, der das geschrieben hat, im Recht ist, dann müssten wir als Erstes den Tempel schliessen.» Und eindringlicher denn je beschäftigte ihn die Frage: «Wohin geht meine Seele, wenn ich sterbe?»
Einer der Götter hiess «Herr der Menschen»
Unter den Gurus und Priestern der Gemeinschaft wurde der junge Student zusehends unbeliebter. Sie hielten ihn für stolz, aufmüpfig, einen Götterverächter oder schlicht für zu jung, Fragen von solcher Tragweite zu stellen. Chellappa blieb immer häufiger allein mit seinen Gedanken, und allein studierte er um so hartnäckiger in den Schriften ... Nicht nur in den vedischen (Rig-, Yazur-, Sama- und Atharva-Veda), sondern auch in den Upanischaden (Kommentaren), Agamas (Gesetzen) und Ariniakas (Philosophien). Dabei entdeckte er einen Gott, der Prajapati genannt wird. «Praja» heisst Mensch, «Pati» bedeutet Herr, also war der Name «Herr der Menschen». Dieser Gott hatte noch einen Beinamen: Purusha, der (grosse) Mensch. Von ihm stand geschrieben, dass sein Opfer die Schuld der Menschen hinwegnehme.
Chellappa kannte diesen Gott nicht. Aber es gelang ihm, aus den Schriften zehn seiner Eigenschaften herauszufinden. Wenn Prajapati in der Gestalt des Purusha die Welt besucht, wird er
1. niskalanga Purusha sein, ein sündloser Mensch.
2. von seiner Familie getrennt.
3. von seinem eigenen Volk abgelehnt werden.
4. auf sein Haupt eine dornige Pflanze gesetzt erhalten.
5. an einen Baum gebunden, der aussieht wie ein trishul, eine Art Speer mit drei Spitzen.
6. Blut aus seinem Leib strömen.
7. sterben, aber seine Knochen bleiben ungebrochen.
8. ins Leben zurückkehren.
9. sein Fleisch den Göttersöhnen als Speise anbieten
10. Alle Arten von Menschen werden seinen Leib bilden.
Chellappa stutzte. Er kannte eine ganze Reihe von Inkarnationen (Götter, die menschliche Gestalt annehmen), aber das geschah immer, um jemanden auf dieser Welt zu verfolgen und zu töten. Und so gross seine Anstrengungen auch waren, er fand keinen Prajapati.
Der unbequeme Student wird Atheist
Die Jahre vergingen. Chellappas unbequeme Fragen, sein eigenwilliges Forschen und sein «schädlicher» Einfluss auf die Mitstudenten brachten die Gurus und Tempelpriester schliesslich dazu, den 22-jährigen wegzuschicken. Menschlich enttäuscht und intellektuell desillusioniert schloss er sich einer Gruppe von Atheisten an. Chellappa war ein begabter Redner. Schon bald übergaben ihm die anderen Gruppenmitglieder in den öffentlichen Versammlungen das Mikrofon. «Es gibt weder Gott noch eine Religion, noch eine Rechtfertigung für das Kastensystem», verkündete er fortan. Ein gebildeter Mann solle ein einfaches Mädchen heiraten, die reiche Frau den armen Mann und der Hellhäutige eine Angehörige der schwarzen Rasse. «Wohin soll das führen, wenn der Reiche, Schöne und Gebildete sich nur mit seinesgleichen einlässt?»
Ein Onkel Chellappas besuchte eine dieser Veranstaltungen und hörte sich die Rede seines Neffen an. «Sprich ruhig weiter so», machte er sich lustig, «wenn es drauf und dran kommt, nimmst du ja doch ein hübsches, reiches Mädchen.» Chellappa ärgerte sich: «Ich bin ein Mann des Wortes und der Tat. Ich werde genauso handeln, wie du es heute Abend gehört hast.» «Wir werden ja sehen», meinte der Onkel.
Heiratsvermittlung
Der ungezügelte Lebensstil ihres Sohnes bereitete der Mutter Chellappas bald einmal Sorgen. Die Ehe, so dachte der Familienrat, würde ihn wieder zur Vernunft bringen. Heiratsvermittlung war im Indien der 60er Jahre fast ausschliesslich eine Domäne der Eltern und nahen Senior-Verwandten. Der Onkel schaltete sich prompt in die Bemühungen ein und suchte, eingedenk der Theorien seines Neffen, nicht ganz nach den Regeln der Konvention, eine Frau für den Heiratskandidaten. Eines Abends besuchte er Chellappa. "Da gibt es ein Mädchen", begann er, "eine Christin... Nicht gerade schön zu nennen. Sie ist vier Jahre älter als du. Kaum gebildet. Ihre Mutter ist tot und ihre jüngere Schwester schwachsinnig. Deshalb hat bisher keiner sie zur Frau nehmen wollen. Wenn du es tust, werde ich anerkennen, dass du nicht nur grosse Worte machst, sondern auch danach lebst."
Chellappa heiratete die Frau. Sein Lebensstil allerdings änderte sich nicht. Das Gehalt, das er als Beamter beim Bahnpostdienst von Bangalore bezog, war schmal. Als geschickter Spieler, dachte Chellappa, würde es ihm vielleicht gelingen, rasch an Geld zu kommen. Das Gegenteil war der Fall. Nun versuchte er sein Glück in Wettbüros. Die Schulden häuften sich. Den Zahlungsunfähigen zog man vor Gericht. Darauf begannen «alte Freunde», sich von ihm zu distanzieren. Eines Morgens nach dem Aufstehen hustete er Blut. Man röntgte ihn im Krankenhaus. Die Ärzte stellten fest, dass beide Lungenflügel mit Tuberkulose befallen waren. Geld für eine Behandlung war keines da. Der Tod war nur noch eine Frage der Zeit.
Dem Tod zuvorkommen
«Was soll ich zuwarten, bis Armut und Siechtum mich noch ganz dahinraffen,» sagte sich Chellappa. «Ich werde dem Tod zuvorkommen.» Auf dem Weg vom Büro nach Hause beschloss er, vom fahrenden Zug zu springen. Er ging zur Wagentür, stellte sich auf das Trittbrett, sah hinaus. Ein letzter Schritt noch ... Durch einen Lautsprecher drang eine menschliche Stimme an sein Ohr: «Wer seine Verfehlungen verheimlichen will, dem gelingt nichts; wer aber sein Unrecht bekennt und aufgibt, der findet Gottes Erbarmen.» (2) Der Zug raste vorüber, Chellappa konnte kein weiteres Wort verstehen.
Was war das? Dieser Textstelle war er in keiner der Schriften begegnet. Neugier und ein unerklärliches Gefühl, dass etwas Grösseres als Zufall im Spiel sei, hielten ihn vor dem tödlichen Schritt zurück. Bei der nächsten Haltestelle stieg er aus und stolperte der Bahnböschung entlang zwei Kilometer weit zurück. Er fand die mysteriöse Stelle. Da standen unter freiem Himmel viele Menschen beisammen, eine grosse Versammlung. Es waren, so schien es, Christen - in den Augen des Brahmanen also Unberührbare; Menschen, die tiefer standen als die allerniedrigste Kaste.
Chellappa stellte sich in sicherer Entfernung unter einen Baum. Dahin, wo der dunkelste Schatten fiel. Von dort aus hörte er zu, was der Mann am Rednerpult sagte. Der erzählte gerade eine Geschichte ...
Er fand Prajapati
Von einem Gott war die Rede, der war der Schöpfer aller Dinge. Aber er blieb nicht wie Gott. Er wurde ein Mann und lebte wie die einfachsten Menschen. Und obwohl er nichts Böses tat und vielen half, schleppten ihn seine eigenen Landsleute vor Gericht. Seine Richter kannten keine Gnade. Der Gott wurde ausgepeitscht und angespuckt, er wehrte sich nicht. Man presste ihm einen Dornenkranz auf den Kopf, er ging ohne zu fluchen an den Ort, wo man ihn durch die Handgelenke und Füsse an ein Kreuz schlug. Sein Tod war qualvoll und lang. Man legte ihn in ein Grab, aber dann ... Gebannt hing Chellappa an den Lippen des Erzählers.
Seine Gedanken wanderten zurück in jene Tage, als er den Gott Prajapati gesucht hatte. Jesus Christus war die Antwort. Der Gott, den Chellappa immer nur als westlichen Import, als Herrscher einer aufs Ganze gesehen machtgierigen weissen Rasse betrachtet hatte ... Er war der Purusha. Das war der Prajapati.
Als der Redner in die Runde fragte, wer Jesus Christus aufnehmen wollte, stürzte der schwer tuberkulöse Mann unter seinem Baum hervor und rannte vor den Augen der Menge bis zum Podium. «Ich, ich!», schrie er. Panik hatte ihn ergriffen. Er dachte, es gebe nur einen Jesus zu vergeben. Käme er nicht als Erster vorne an, sei alles verloren.
In jener Nacht kam für Chellappa die Wende. Er wurde von Tuberkulose geheilt, aber erst nach zwei Jahren, und im Angesicht des Todes. Er wandelte sich aus einem verschuldeten Mann in äusserster Not zum Vater einer Familie in bescheidenem Wohlstand. Aber auch das dauerte 13 Jahre. Chellappa wurde zu einem Missionar unter Indern und Tamilen. Seine Gelehrsamkeit in den heiligen Schriften der Hindus und der Christen hat ihm Türen geöffnet, die anderen vielleicht für immer verschlossen geblieben wären. Noch heute trägt Chellappa, wenn er geht, um öffentlich über den Glauben zu reden, safrangelbe Kleidung, die Farbe der Brahmanen. Sadhu - heiliger Mann - hat ihn zum ersten Mal eine schwedische Frau genannt. Sie wollte eigentlich Hinduistin werden und sich den Namen Sarasvati (3) zulegen, kam aber durch sein Zeugnis zurück zum Glauben an Jesus. Sadhu Chellappa ist schon mehrfach von radikalen Hindus zusammengeschlagen, mit Steinen beworfen oder verhaftet worden. Zwei Mordanschlägen ist er bisher entgangen. (sg)
1) Swami (oder goswami) ist ein in der Meditation fortgeschrittener indischer Mönch, der seine Sinne zu beherrschen versteht. Manchmal dient das Wort als respektvolle Anrede von angesehenen Priestern und Gurus.
2) Sprichwörter 28,13
3) Die Göttin der Gelehrsamkeit
Datum: 29.03.2002
Quelle: Erlebt.ch