«Gott hat viele Türen geöffnet»
Das zentrale Anliegen Ihrer Arbeit war immer, das
Evangelium zeitgemäss zu verkünden. 2018 haben Sie PRO im Interview
gesagt: «Mission in der Kirche geht mir zu langsam.» Ist das immer noch
so?
Michael Herbst: Das würde ich unverändert so sagen. Ich freue mich
darüber, dass wir mit unseren Themen besser vorkommen und besser gehört
werden. Aber ich wünsche mir einen ganz anderen Drive. Ich wünsche mir,
dass neue Gemeindeformen in allen Landeskirchen Unterstützung finden.
Dass missionarische Verkündigung viel offensiver begrüsst wird. Gerade
deswegen, weil wir nicht davon ausgehen dürfen, dass die Menschen in
unserer Gesellschaft schon irgendwie christlich funktionieren. Wir
müssen sie ganz neu davon überzeugen, dass der christliche Glaube für
ihr Leben etwas Gutes ist. Das kann gar nicht schnell genug gehen.
Sind Mission und Evangelisation heutzutage schwieriger, weil die Lebenswelt der Menschen so vielschichtig geworden ist?
Einerseits, ja: Man kann gerade bei jüngeren Menschen an fast nichts
mehr anknüpfen. Der Grundwasserspiegel im Blick auf Religion ist so
gesunken, dass es viele Bemühungen braucht, das Glaubensthema plausibel
zu machen. Insgesamt ist die Position des christlichen Glaubens in
Deutschland nicht nur statistisch geschwächt. Das Zutrauen, dass
Christen etwas Wertvolles beizutragen haben, ist deutlich gesunken.
Daran haben auch Missbrauchsskandale ihren Anteil. Wir müssen erst
wieder Vertrauen bekommen.
Andererseits: Für die, die sich ansprechen lassen, ist christlicher Glaube nicht das Altbekannte, was ein bisschen langweilig geworden ist, sondern etwas ganz Neues. Das erleben wir in Ostdeutschland, wenn Menschen zum Glauben kommen. Das ist für sie sensationell neu. Man darf nicht denken, die Menschen wollten von der Kirche nichts mehr wissen. Dort, wo Gemeinden gastfreundlich sind, wo Christenmenschen authentisch und glaubwürdig sind, ist es immer sehr gut möglich, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die nicht glauben. Theologisch muss man dazu sagen: Wenn ein Mensch anfängt zu glauben, ist das immer ein Werk des Heiligen Geistes. Man ist immer darauf angewiesen, dass Gott das Entscheidende tut.
Wie hat sich die Bedeutung des Themas Mission innerhalb der Kirche über die Jahre verändert?
Durch den fulminanten Vortrag von Eberhard Jüngel auf der Leipziger
EKD-Synode 1999 wurde das Thema Mission überhaupt erst wieder in den
Blick der Evangelischen Kirche gerückt. Seitdem haben wir mit einigen
Aufs und Abs immer die Themen Mission, Verkündigung und
Gemeindeerneuerung auf der Tagesordnung gehabt. Unser Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung
(IEEG, Anm. d. Red.) an der Uni Greifswald wäre nicht denkbar ohne
Leipzig '99. Die Glaubenskursinitiative 2009, mit der die EKD das Thema 'Glaubenskurse' – also Alpha, Emmaus, Spur 8 u.a. – stark propagiert
hat, ist eine Frucht davon. In der jüngeren Zeit unterstützen einige
Landeskirchen sogenannte 'Erprobungsräume'. Dort liegt ganz klar der
Fokus darauf, Menschen anzusprechen, die in keine Kirche gehen würden.
In den Kriterien der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland dafür
heisst es: «Sie erreichen die Unerreichten mit dem Evangelium und laden
sie zur Nachfolge ein.» Das sind klare missionarische Akzente.
Das bedeutet aber nicht, dass die EKD jetzt in Gänze missionarisch entflammt wäre. Wir haben auch Rückschläge, es gab auch immer wieder die grundsätzliche Infragestellung von Mission oder schlicht Desinteresse in manchen Bereichen der Kirche. Aber wir sind deutlich sichtbarer und erwünschter als das noch vor einer Generation der Fall war.
Was sehen Sie als «Meilensteine» Ihrer theologischen Arbeit?
Für mich sehr prägend ist erstens, dass ich in Erlangen theologisch
sozialisiert wurde bei Manfred Seitz (von 1964 bis 1994 Professor für
Praktische Theologie in Heidelberg und Erlangen, Anm. d. Red.). Das
heisst: mit dem Evangelium Gemeinden erneuern, aber bitte möglichst in
der Landeskirche. Das heisst nicht, dass man etwas gegen Freikirchen hat.
Aber es bedeutet, Erneuerung an dem Ort zu versuchen, an den ich
gestellt worden bin. Ich bin ordinierter Pfarrer – das ist bei mir also
die Landeskirche.
Das Zweite ist die Gründung des IEEG in Greifswald 2004. Ich hätte mir vorher nicht vorstellen können, dass es gelingt, an einer Universität, an einer staatlichen Fakultät, ein Institut zu gründen, das «Evangelisation und Gemeindegründung» im Namen trägt und auf dem Programm hat. Damals hat Gott viele Türen geöffnet. Viele freundliche Menschen haben uns unterstützt. Landeskirchen haben Personal gestellt. Sonst wäre das alles nicht zustande gekommen und zur heutigen Grösse gewachsen.
Klimaschutz und Unterstützung für Klima-Aktivisten spielt bei
der EKD in letzter Zeit eine grosse Rolle. Verliert die Kirche ihren
eigentlichen Auftrag dabei aus den Augen?
Das würde ich so nicht sehen. Die gesamte Umweltbewegung kann von
einem schöpfungstheologischen Ansatz inspiriert sein. Die Schöpfung ist
uns anvertraut, dass wir sie bebauen und bewahren, wie es am Anfang der
Bibel heisst. Wir tun gerade im Wesentlichen das Gegenteil. Da müssen wir
uns ändern. Allerdings könnte etwas deutlicher werden, warum wir das
tun. Dass wir das aus einer Glaubenshaltung und Verantwortung vor Gott
heraus tun. Es wäre auch eine Brücke in die Gesellschaft hinein, zu
zeigen: Christen sind nicht nur in einer religiösen Blase unterwegs,
sondern nehmen Anteil an den Themen, die die Menschen heute mit Recht
bewegen. Es stünde uns nicht besser zu Gesicht, wenn wir da nicht aktiv
wären. Dass manche, die in diesen Fragen unterwegs sind, relativ wenig
Interesse daran haben, dass Menschen in eine persönliche Beziehung zu
Jesus Christus hineinfinden, bedauere ich. Aber das ist nicht ein
Problem allein derer, die sich für Klimaschutz einsetzen.
Vor zwei Jahren haben Sie bei einem Vortrag gesagt, Christen
nähmen in der Gesellschaft eine Minderheitenposition ein. Dann kam
Corona. Hat sich durch die Krise etwas geändert?
Bis in die intellektuell anspruchsvollen Zeitungen wie Die Zeit
hinein wurden im vergangenen Jahr Fragen diskutiert wie «Darf ein
Seelsorger ins Altenheim und die Alten unter Corona-Bedingungen
besuchen?». Man merkte, dass es wichtig ist, dass ein Pfarrer oder eine
Pfarrerin einen sterbenden Menschen nicht alleine lässt. Das fand ich
erfreulich. Andererseits habe ich Sorge, dass die lange Zeit ohne
Präsenzgottesdienste uns als Kirche etwas auseinandergezogen hat. Ich
bin gespannt, wie es jetzt weiter gehen wird, wenn wir allmählich in die
Normalität zurückkommen. Und ob nicht mancher sagt: Ich bin auch ganz
gut ohne Kirche klargekommen. Die Mitarbeit in den Gemeinden ist in
vielen Bereichen zum Erliegen gekommen. Ich frage mich, ob wir das
wieder aktiviert bekommen.
Die Coronakrise hat scheinbar eine Spaltung der Gesellschaft
zu Tage gefördert. Ein Beispiel sind teils erbitterte Diskussionen rund
um Themen wie Impfung und Corona-Massnahmen. Man hat den Eindruck, die
Gesellschaft teilt sich in zwei Lager. Wie haben Sie die Rolle der
Kirche darin wahrgenommen?
Ich war vor meiner Berufung nach Greifswald selbst
Krankenhausseelsorger. Als ein solcher hätte ich mir in der Corona-Krise
etwas mehr Rückenwind erhofft. Die Kirchen haben sehr «brav» auf die
Regierungsmassnahmen reagiert. Das kann ich im Blick auf die Sicherheit
der Menschen nachvollziehen. Aber im Blick auf die Einsamkeit von Alten
und Sterbenden in Pflegeheimen und Krankenhäusern, im Blick auf die
Möglichkeit, in irgendeiner Weise gottesdienstliches Leben aufrecht zu
erhalten, hätte ich mir etwas mehr robuste Eigenständigkeit gewünscht.
Auf der anderen Seite bin ich theologisch davon überzeugt, dass unser Glaube zwar über Vernunft hinausgeht, aber nicht unvernünftig ist. Deshalb habe ich wenig Verständnis, wenn gerade in christlichen Kreisen krude Verschwörungstheorien geglaubt und vernünftige Massnahmen, die uns Virologen und Impfexperten anbieten, ausgeschlagen werden. Im Einzelfall kann ich einen Menschen verstehen und akzeptieren, wenn er Angst hat vor einer Impfung. Auch wenn ich es selbst nicht teilen würde. Aber daraus eine Bewegung zu machen, die meint, querdenken zu müssen, ist mir sehr schwer einsichtig. Es gibt keine rationalen Gründe dafür. Wir haben über 93'000 Tote in Verbindung mit Corona in Deutschland. Meine Frau und ich haben Corona einen Monat lang auf dem Krankenlager durchgemacht und fanden es überhaupt nicht lustig. Wir wissen von Menschen, die einsam gestorben sind. Menschen, die schwer unter der Krankheit leiden bis hin zu Long Covid.
Wie haben Sie die Coronakrise selbst erlebt?
Meine Frau und ich waren die ersten Patienten mit Corona in
Mecklenburg-Vorpommern. Wir haben uns beim Willow-Creek-Kongress in
Karlsruhe angesteckt, der dann auch wegen der Infektionslage abgebrochen
werden musste (Livenet berichtete). Wir sind in einer Weise darniedergelegen wie noch nie
zuvor. Für uns war es ein Monat völliger Kraftlosigkeit. Irgendwann, als
wir etwas Kräfte sammelten, war es eine merkwürdige Isolation. Wir
konnten unsere Kinder nicht zu unseren Geburtstagen einladen, wir
konnten mit der Gemeinde nicht zusammen sein. Mir bedeutet im Glauben
das Abendmahl sehr viel. Seit März 2020 habe ich zweimal eine
Abendmahlsfeier erlebt. Corona hat unsere Gesellschaft und uns
persönlich von einer Minute auf die andere vor Veränderungen gestellt,
die wir uns nicht hätten vorstellen können.
Im kommenden Jahr geben Sie auch die Leitung vom IEEG ab. Was planen Sie für den Ruhestand?
Ich habe Jahrzehnte Gremienarbeit hinter mir. Dass ich das nicht mehr
muss, empfinde ich als grosse Befreiung. Aber ich kann mir nicht
vorstellen, nicht mehr zu predigen und nicht mehr zu lehren, so lange
ich Kraft habe. Ich betreue noch Doktoranden und möchte Einiges
schreiben. Ich werde als Freelancer an Projekten und Tagungen des
Instituts mitwirken, aber nichts mehr leiten. Die Themen, die mir
wichtig sind – gute Predigt, missionarische Gemeindeentwicklung,
Evangelisation, gute Seelsorge – möchte ich weiter betreiben und, so gut
ich kann, fördern.
Was wünschen Sie sich von den Dingen, die Sie angestossen und entwickelt haben, für die Zukunft?
Mir ist im Laufe der Jahre immer wichtiger geworden, junge Menschen
so zu fördern, dass sie ihr Potenzial abrufen, ihre Gaben entwickeln und
Schritte nach vorne tun können. Ich glaube, dass das die Aufgabe für
uns Ältere ist. Der Pfarrer Fabian Vogt hat mal gesagt: Wir sollen
jungen Menschen den roten Teppich ausrollen. Das ist eine schöne
Formulierung für das, was mir in meinem Dienst immer das Wichtigste
gewesen ist.
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Datum: 15.10.2021
Autor: Swanhild Brenneke
Quelle: PRO Medienmagazin