Wo die Welt immer noch schreit
Der Giessener Psychologieprofessor Markus Knauff erklärt in seinem Beitrag in der ZEIT, dass die «Verfügbarkeit im Gedächtnis […] unbewusst als Ersatz für fehlende Information verwendet» wird. Sprich: Wenn alle von Corona reden, halten wir uns schneller für bedroht oder infiziert. Dieser Verfügbarkeitsfehler (availability error) suggeriert uns eine besondere Bedrohung und lässt andere Nachrichten in den Hintergrund treten. Auch wenn sie unverändert wichtig sind.
Andere Nachrichten
Nachrichten, die jetzt im Vordergrund stehen, sind solche wie die folgenden: «Fussball-EM wegen Corona-Krise auf 2021 verschoben» (Westdeutsche Zeitung), «Coronavirus breitet sich aus: Gerät sogar Olympia 2020 in Gefahr?» (Münchner Merkur tz). Immer weiter in den Hintergrund geraten Nachrichten von den Geflüchteten, die sich zurzeit im Niemandsland zwischen der Türkei und Griechenland befinden. Die Behandlung dieser Geflüchteten widerspricht dem EU-Recht, der Genfer Flüchtlingskonvention und den allgemeinen Menschenrechten. Doch Europa ist zurzeit anderweitig beschäftigt.
Nichts ist in Ordnung
Andrea Wegener ist seit 2018 auf Lesbos im berühmt-berüchtigten Camp Moria. Die Deutsche ist von Campus für Christus und seinem humanitären Zweig GAiN an die griechische Hilfsorganisation Eurorelief «ausgeliehen» worden. Sie kennt die Situation in Europas grösstem Flüchtlingslager aus eigener Anschauung. Letztes Jahr veröffentlichte sie ein Buch über ihre Arbeit: «Wo die Welt schreit: Wunder und Wagnisse im Camp der Vergessenen am Rande Europas».
Doch inzwischen hält sie in ihrem Blog fest: «Als ich im Sommer die letzten Überarbeitungen an meinem Buch vornahm, schien noch alles in Ordnung: Wir hatten zwar immer noch rund 5'000 Moria-Bewohner bei einer Kapazität für 3'000, aber das war kaum dramatisch – immerhin hatten wir auch schon 9'000 'gestemmt'. Wir konnten mit schönen Projekten das Camp ein kleines bisschen wohnlicher machen; mit Solarlampen, neuen Zelten und Zwischenwänden in den überfüllten Räumen. Wir atmeten auf und dachten vielleicht heimlich doch, dass irgendwie irgendwann sogar hier alles gut werden würde. Seit August denkt das hier niemand mehr. Die Bevölkerung von Moria ist auf über 19'000 angewachsen – 19'000 Männer, Frauen und Kinder, von denen drei Viertel in den Olivenhainen rund ums Camp hausen, ohne Elektrik oder Sanitäranlagen, oft in Sommer-Wurfzelten auf einer Palette und notdürftig mit einer Plane gegen Regen und Kälte geschützt. Auch im Camp ist das Stromnetz längst überfordert: Weil zu viele Menschen Strom abzuzapfen versuchen, sorgen ständige Kurzschlüsse dafür, dass eben niemand mehr Strom hat. Die Übergangs-Camp-Leitung (der Chef hat im August das Handtuch geworfen und es ist noch kein Ersatz gefunden; kein Wunder! Moria zu leiten, ist das reinste Kamikaze-Unternehmen!) versucht dem entgegenzusteuern, indem sie den verschiedenen Zonen innerhalb des Camps stundenweise Strom zuteilt. Für die Wasserpumpen ist das nicht genug: Ab 10 Uhr morgens gibt es kein Wasser mehr. Die angekündigten Generatoren, die Erleichterung schaffen könnten, lassen auf sich warten…»
Nein, es ist wirklich nichts in Ordnung am Rande Europas. Was könnte geschehen? Flüchtlinge, die nichts mehr zu verlieren haben, könnten durchdrehen und randalieren, bis sie mit Gewalt niedergeschlagen werden. Die Bevölkerung von Lesbos, die jahrelang mit Geduld und grosser Gastfreundschaft viele Nachteile in Kauf und den Zusammenbruch des Tourismus hingenommen hat, könnte sich geschlossen gegen die Migranten und das Camp wenden. Oder eine Epidemie könnte über das Camp hinaus um sich greifen und Hunderte Tote fordern. Momentan scheint alles miteinander möglich.
Mit offenen Augen in die Katastrophe
An diesem Punkt kommt Covid-19 ins Spiel. Seit Kurzem sind Ansammlungen von mehr als fünf Personen auf Lesbos untersagt. Dabei gibt es bisher erst einen verifizierten Fall auf der Insel: eine einheimische Supermarktangestellte. Doch in Griechenland werden ohnehin nur Menschen mit schweren Symptomen getestet – und Geflüchtete ohne Krankenversicherung gar nicht.
Andrea Wegener beschreibt eine normale Besprechung der Verantwortlichen für das Camp Moria in Zeiten von Corona. «Wir könnten Informationen in verschiedenen Sprachen für alle Bewohner drucken lassen» , schlägt ein Mitarbeiter vor. «Obwohl viele Analphabeten sind?», fragt jemand zurück. «Wir können jedenfalls nicht davon ausgehen, dass sich alle die Hände waschen oder desinfizieren.» «Jedenfalls nicht, wenn sie zu weit vom nächsten Waschbecken entfernt wohnen und Wasser ab zehn Uhr nicht mehr zur Verfügung steht.» Wie lässt sich hier ein Meter Abstand zu anderen Menschen halten? Wie soll das funktionieren, wenn vier Familien mit kleinen Kindern, also vielleicht 18 Leute, in einem 16-Quadratmeter-Zelt hausen? Andrea Wegener beschreibt: «Was Moria ausmacht, mehr noch als der Gestank, ist das Gewimmel von Menschen aus 50 oder 60 ethnischen Gruppen auf engstem Raum.»
Ein Verantwortlicher berichtet stolz: «Ja, wir haben eine Lösung.» Auf dem abgegrenzten Gelände innerhalb von Moria, im Moment für Büros und Lagerräume des Militärs verwendet, befinden sich einige Wohnungen. Eine davon würde zur Quarantänestation umfunktioniert. Eine Wohnung mit vielleicht sechs Betten als Quarantänestation für 20'000 Menschen? Und wer versorgt die Kranken, wenn es sie dann gibt? Und wo? Das kleine Krankenhaus von Mytilene war doch schon vor Corona überlastet; eine Insel mit 85'000 Einwohnern verkraftet die 20'000 Zusätzlichen aus dem Camp nicht ohne Weiteres.
Christen sind gefordert
Andrea Wegener hält fest: «Unsere Situation hier kommt mir immer surrealer vor. Ich bin sicher nicht der einzige Mensch auf der Welt, der angesichts von Corona hofft, dass das alles nur ein schlechter Traum war und wir alle irgendwann aufwachen und wieder zur Tagesordnung übergehen werden, in der unsere Pläne zustandekommen, das Leben einigermassen funktioniert und es in den Supermärkten genug Toilettenpapier für alle gibt. Und dann wird mir – was mich vermutlich dann doch von den Leuten zu Hause unterscheidet – wieder bewusst, dass ein Aufwachen aus dem Corona-Albtraum hier auf Lesbos kein echter Fortschritt wäre: Moria war schon vorher ein Albtraum und keine Realität, in der man gerne aufwachen möchte. Dass alles seit Monaten auf eine Katastrophe zuläuft, empfinde ich ja schon länger. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass unser Camp in zwei, drei Monaten, 'nach Corona', noch in der Form existiert, in der wir es kennen. Vielleicht ist diese Pandemie die Chance auf eine neue, bessere Realität. Ich möchte es so gerne hoffen.»
Genau das ist der Punkt, an dem wir Daheimgebliebenen ansetzen können und müssen: Nicht jeder kann sich auf Lesbos und den Nachbarinseln für Geflüchtete engagieren. Zurzeit ist die Mitarbeit kaum möglich. Doch jede und jeder kann mithelfen, dass die Menschen am Rande Europas nicht einfach vom Tagesgeschehen zur Seite gewischt werden. Liebe in Zeiten von Corona? Sie muss mehr sein als Selbstliebe und Fürsorge für die eigenen Verwandten.
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Datum: 19.03.2020
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / Andrea Wegener (andreasnotizen.jimdofree.com)