Der Skeptiker
Darum war er nicht dabei, als der lebendig gewordene Jesus an Ostern seinen Kollegen und Freunden begegnete. Und als Thomas aus seiner Ecke, in die er sich verkrochen hatte, wieder rauskam, redeten sie alle aufgeregt auf ihn ein: «Jesus war hier. Er lebt. Wir haben ihn gesehen. Er hat sogar mit uns gegessen.» Aber Thomas war zu verletzt. «Geht’s eigentlich noch? Seht ihr Gespenster? Ich glaube nur, was ich sehe. Ich habe gesehen und gehört, wie sie die Nägel durch seine Hände getrieben und seine Seite mit dem Speer aufgerissen haben. Das sind Tatsachen. Und nur wenn ich ihn sehe und meine Finger in die Wunden legen kann, glaube ich. Sonst nicht. Basta.»
Zweifler – oder Realist?
Thomas war kein Zweifler aus Prinzip, aber Realist und Skeptiker. Er hatte die Sache mit Jesus ernst genommen. Umso schlimmer, dass jetzt alles zu Ende sein sollte. Man kann es total verstehen, dass er sich weigerte, seinen Glauben auf die Begeisterung anderer aufzubauen. Er war erwachsen und wusste: ich muss selbst überzeugt sein. Ein Glaube nur vom Hörensagen «verhebt» nicht. «Ich muss diesem Jesus selbst begegnen» sagte Thomas. «Ich muss ihn berühren, erfahren. Ich brauche Tatsachen. Sonst gebe ich's lieber auf. Noch einmal lass ich mich nicht an der Nase herumführen.»
Jesus eine Chance geben
Thomas war nicht überzeugt, aber er blieb offen. Er kehrte zur Gruppe der Freunde von Jesus zurück. Er wusste: wenn ich ihn irgendwo finde, diesen meinen verlorenen Jesus, dann am wahrscheinlichsten bei seinen Freunden. Und so wartete er. Ich bin sicher, er hoffte und bangte. «War ich zu kritisch? Darf man so zweifeln, wenn es doch alle anderen erlebt haben?» Aber er gab nicht auf. Er gab Jesus eine Chance, sich ihm zu zeigen.
Jesus individuell erleben
Eine Woche lang ist Thomas hin- und hergerissen zwischen Skepsis und Hoffnung. Und dann, wieder am Sonntagabend, geschieht es. Jesus ist plötzlich wieder da. Wünscht ihnen Frieden und wendet sich dann an Thomas: «Gib deinen Finger her und spüre meine Hände. Gib deine Hand und lege sie in meine Seite. Und jetzt sei nicht ungläubig, sondern gläubig.» Meisterhaft. Drei Sachen fallen auf, wenn ich mir die Szene vorstelle:
- Zweifel und Realismus werden nicht verurteilt
Kein Wort des Vorwurfes im Sinne von «Warum hast du den anderen nicht geglaubt?» Jesus, Gott kann mit Skepsis umgehen. Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen gesunder Skepsis und grundsätzlichem «Nicht-glauben-wollen». Aber Gott hat kein schwaches Ego und kann mit Zweifel gut umgehen. Er sieht die tieferen Motive in uns: Sehnsucht, Verletztheit, Hoffnung, und auf die zielt er ab.
- Jesus meint uns individuell
Keiner verlangt von uns, nur zu glauben, weil alle anderen es tun. Gott ist sehr daran interessiert, Thomas und Hans und Vreni und Marcel auf ihrer Wellenlänge zu erreichen. Und solange wir offen sind, wird er auf eine Art zu uns kommen, dass wir ihn erkennen können. Denn es ist ihm sehr an einer persönlichen Begegnung mit uns Menschen gelegen.
- Eine echte Begegnung mit Jesus haut um
Die Tatsache, dass Jesus seinen Zweifel gesehen, ihn dabei nicht verurteilt hat und sich ihm persönlich so widmet, haut Thomas um. Er fällt auf die Knie und ruft als erster das aus, was Millionen von Menschen seitdem bekannt haben: «Mein Herr und mein Gott!» Aus einem verwirrten Skeptiker wird ein aktiver Christ. Wenn die Legende stimmt, ist Thomas aufgebrochen und bis nach Indien gekommen, wo es heute noch Thomaschristen gibt.
«Mein Herr und mein Gott» – das ist Glaube an Jesus, auf die kürzeste Formel gebracht. Nicht einen allgemeinen «Herrgott», sondern Jesus als «Herrn und Gott meines Lebens» erkennen: darum geht es an Ostern.
Datum: 21.04.2014
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Jesus.ch