Frankreich: Das erstaunliche Wachstum der Evangelikalen
Seit einigen Wochen ist der Fabrikhangar in der Industriezone im Norden von Alençon, in dem bis vor kurzem Mühlen aus Plastik hergestellt wurden, von neuem Leben erfüllt. Eingehüllt in weite Mäntel, kommen jetzt Gläubige hier zum Gebet zusammen. Die Frau und die Tochter von Pastor Georges Kembo sind für diese Gemeinschaft verantwortlich, stimmen die Lieder zum Klang von Schlagzeug, Saxophon und Synthesizer an, während die Worte auf einen grossen Bildschirm gebeamt werden.
In vier Jahren verdreifacht
Jeden Sonntag kommen hier etwa 200 Menschen zusammen und füllen den 1800-m2-Saal und die Nebenräume damit noch lange nicht aus, die die Gemeinde gemietet hat. Die Gemeinde gehört zu den «Assemblées de Dieu» (ADD), einer der Hauptgruppierungen innerhalb des «Conseil national des évangéliques français» (CNEF), in dem etwa 70 Prozent der Evangelikalen Frankreichs zusammengefasst sind. Als Pastor Kembo die Gemeinde 2013 übernahm, zählte sie etwa 80 Personen und traf sich in einem kleinen Raum im Stadtzentrum.
«Die Evangelikalen hängen nicht an der Vergangenheit, sondern kultivieren die Hoffnung», fasst der Soziologe Sébastien Fath, Spezialist für diese Glaubensrichtungen, zusammen. «Darum bauen sie grössere Säle, als sie eigentlich im Moment nötig hätten, und drücken damit aus, dass sie Wachstum erwarten.»
In rund vierzig Jahren hat sich dieser lebendige Strom des französischen Protestantismus verdreifacht. Und seit etwa zwanzig Jahren gründen die Evangelikalen nicht nur neue Gemeinden; sie werden auch grösser, renovieren und bauen neu.
Für Sébastien Fath ist diese «Dynamik ein Zeichen, dass die Bewegung tiefe Wurzeln geschlagen hat». Sie hat Erfahrungen gesammelt. Aber es ist auch ein Ausdruck der «Kontinuität»: «Wie der Islam hat die Zahl der Evangelikalen eine kritische Masse erreicht, die sie sichtbar werden lässt.» Für den Augenblick gehe ihr Wachstum ungebremst weiter.
Kulturraum von 10'000 m2
Diese Dynamik hat zum Beispiel die Martin-Luther-King-Gemeinde in Créteil (Val-de-Marne) kennengelernt. Im Jahr 2004 trafen sich die Gläubigen in einem kleinen gemieteten Raum. Vier Jahre später zogen sie in ein Lokal um, das 200 Personen Platz bot. Seit 2015 treffen sich hier jeden Sonntag über 750 Personen in fünf (!) Gottesdiensten.
Um mit dem Wachstum Schritt zu halten, plant Pastor Ivan Carluer (ebenfalls Mitglied der ADD) Grosses. Er hat das «Projekt Horizont 2020» lanciert, das einen Kulturraum vorsieht, der 10'000 m2 umfassen soll.
Ein Saal von 1500 Plätzen ist für Gottesdienste vorgesehen. Aber das Zentrum soll mit vielen anderen Möglichkeiten «allen dienen, unabhängig von ihrer Religion»: Geplant ist eine zweisprachige Kinderkrippe, Räume für Hochzeiten (mit einer Küche, die auch koscher kochen kann) und sogar einem Funpark mit Kinderplaschbecken und Wasserrutschbahn.
Sichtbarkeit geben
Solche ambitiösen Projekte geben «Gemeinschaften, die bisher gesellschaftlich marginalisiert waren, eine neue Sichtbarkeit», analysiert Sébastien Fath. Vorausgesetzt, dass die Behörden solche Projekte favorisieren, was in den meisten Situationen der Fall ist. «Die Kommunikation mit den Volksvertretern ist sehr gut», fasst denn auch Pastor Ivan Carluer zusammen, der sogar Lokale gekauft hat, die bisher der Stadt gehörten.
Nachdem die Evangelikalen lange Zeit Ablehnung und Misstrauen erfuhren, haben sie heute an Anerkennung gewonnen. Baubewilligungen sind immer einfacher zu erhalten – ein Beweis, dass sie einen positiven Platz im religiösen Panorama in Frankreich gewonnen haben.
Allerdings ist das noch nicht überall der Fall, «vor allem in Quartieren, wo eine starke islamische Wählerschaft existiert», hält Thierry Le Gall, Kommunikationsbeauftragter des CNEF, fest. An bestimmten Orten hätten die Behörden die Tendenz, den Bau neuer Moscheen zu favorisieren, hört man oft unter der Hand bei den Evangelikalen. Es gibt aber auch gegenteilige Erfahrungen, wie ein guter Kenner der Szene festhält: «Bestimmte Städte ermutigen durchaus die evangelikalen Gemeinschaften, obwohl sie bisher nur die Muslime als offiziell organisierte Gesprächspartner hatten; sie hoffen, so auf friedliche Weise beizutragen, die postkolonialen Wunden zu heilen.»
Alle zehn Tage eine neue Gemeinde
Im Moment entsteht unter den Evangelikalen Frankreichs alle zehn Tage eine neue Gemeinde. Das ergab die Studie, die Daniel Liechti, Leiter der Kommission für Evangelisation und Gemeindegründung des CNEF, im Januar 2017 veröffentlichte (Livenet berichtete). Von den 2500 evangelikalen Gemeinden im Land sind 1750 seit 1970 gegründet worden. Jedes Jahr kommen im Durchschnitt 35 dazu. Das spektakulärste Wachstum findet allerdings bei unabhängigen Gemeinden ausserhalb des CNEF statt und ist schwer zu beziffern.
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Datum: 25.02.2017
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet / LaCroix