Die Absicht des Briefes
Paulus verstand sich in seiner Berufung als Missionar, der in Kategorien von Völkern und Ländern dachte. So konzentrierte er sich bei seiner Verkündigung im Ostteil des Römischen Reiches auf die Grossstädte. Seine Strategie bestand darin, an den wichtigen Knotenpunkten christliche Gemeinden zu gründen. Es lag dann an diesen, das Evangelium in die umliegenden Dörfer zu tragen.
Dazu kam, dass die wenigsten Dorfbewohner seine griechische Muttersprache verstanden hätten. Daher kann Paulus den Römern schreiben: «Nun aber, da ich in diesen Gegenden kein Arbeitsfeld mehr habe...» (Kapitel 15, Vers 23).
Werben um die römischen Christen
Mit seinem Brief will Paulus sich selbst und seine Theologie der ihm unbekannten Gemeinde in Rom vorstellen. Er hofft, diese Gemeinde als Trägergemeinde für seine geplante Spanien-Mission zu gewinnen. Nachdem Paulus in den vorangegangenen 14 Kapiteln seine Theologie erläutert hat, spricht er gegen Ende des Briefes diesen Punkt an.
Von Korinth – dem Abfassungsort des Briefes – wollte er zuerst nach Jerusalem reisen, um dort die gesammelte Kollekte für die Urgemeinde zu überbringen. Diese Reise war für ihn problematisch, musste er doch damit rechnen, dass die dortigen jüdischen Behörden ihm nachstellen würden und dass die Judaisten in der Jerusalemer Gemeinde die Überhand gewonnen hatten.
Diese Judenchristen verlangten von den Nichtjuden, dass sie zuerst Juden werden müssen, bevor die Erlösungstat Christi an ihnen wirksam werden kann. Sie kämpften immer wieder gegen Paulus und seine «liberale» Auffassung, wonach den Heidenchristen keine zusätzlichen Lasten auferlegt werden sollten. Die Judaisten schickten «Nachmissionare» in die von Paulus gegründeten Gemeinden (nachweislich nach Antiochia, Galatien, Philippi, Thessalonich und Korinth), um die neuen Christen unter das jüdische Gesetz zu bringen. In Galatien scheinen diese «Nachmissionare» einigen Erfolg gehabt zu haben.
Judaisten bereiteten Ärger
Das wurde für Paulus zum Anlass für den ziemlich gehässigen Brief an die Galater. Paulus kämpfte in seinen vier Hauptbriefen (Römer, 1. und 2. Korinther sowie Galater) stets darum, dass Jesus das Zentrum der christlichen Verkündigung blieb und nicht die Thora. In diesen Briefen findet man daher den Begriff «Beschneidung» 30 Mal, in den übrigen nur noch neun Mal.
Auch das Wort «Gesetz» erscheint in den erwähnten Briefen 113 Mal, in den übrigen nur sechs Mal. Die Auseinandersetzung mit den Judaisten zwingt Paulus, ausführlich auf folgende Fragen einzugehen: Wie kann man das Evangelium predigen und das durch Mose offenbarte Gesetz dennoch ernst nehmen? Wenn die Erwählung Israels nicht für die Heiden gilt, was bedeutet dann die Erwählung Israels (Kapitel 9 – 11)? Wie baut sich eine Ethik auf, die auf Jesus basiert und nicht auf dem Mose-Gesetz (Kapitel 12 – 14)?
Mit seinem Brief an die Römer will Paulus die Gemeinde in Rom für sich und «sein» Evangelium gewinnen. Denn wenn auch dort seine Verleumder die Überhand gewinnen würden, fiele die geplante Missionsreise nach Spanien ins Wasser.
Die Welt der Christen in Rom
In der Apostelgeschichte wird berichtet, dass die Gläubigen Paulus bei seiner Landung in Italien bis zu 65 Kilometer entgegenliefen, um ihn zu empfangen. Überwältigt von Dankbarkeit schöpfte er neuen Mut. Sein Brief an die Römer ist also gut aufgenommen worden. Bei einer Aussprache5 mit den führenden Juden von Rom, zeigte sich auch, dass noch keine negativen Berichte über ihn bis in die Synagogen von Rom gelangt waren.
Einige ganz neue Aspekte in der Diskussion um den Römerbrief bietet das ausgezeichnete Buch von Mark Nanos. Er geht davon aus, dass sich die Christen in Rom damals hauptsächlich in den Synagogen versammelten. Weil die Juden in Rom Unruhe stifteten, vertrieb Kaiser Claudius durch ein Dekret im Jahre 49 einen Grossteil von ihnen aus Rom. Nun sahen sich die Heidenchristen plötzlich in der Überzahl, was vielleicht dazu führte, dass sie das jüdische Erbe abwerteten und sich der jüdischen Minderheit gegenüber überheblich benahmen.
Ihnen schreibt Paulus ermahnend, sie sollten das jüdische Erbe nicht abwerten und nicht vergessen, dass sie nur aufgepfropfte Zweige am jüdischen Stamm seien (Kap. 11). In den ersten Kapiteln des Briefes zeigt Paulus, wie sich das Verhältnis von Glauben an Jesus und Gesetzestreue gestaltet, und in den Kapiteln 12 – 14 erinnert er sie daran, wie sie sich als Gäste in der Synagoge verhalten sollen.
Gemeinsame Wurzeln entdecken
Paulus ging es zentral um die Bewahrung der Einheit zwischen Juden und Christen: «Damit ihr einmütig (Juden und Christen?) den Gott und Vater unseres Herrn Jesu Christi verherrlicht» (Kapitel 15, Vers 6). Auch in anderen Briefen betont er diese Einheit. Er unternahm die lebensgefährliche Reise nach Jerusalem trotz allen Warnungen, wohl aus dem Anliegen heraus, den Geist der Spaltung abzuwenden.
Leider wurde die Spaltung zwischen der Synagoge und den Christen schon wenige Jahre nach dem Tod des Apostels von beiden Seiten her für Jahrhunderte zementiert. Und eine unheilvolle Entwicklung nahm ihren Lauf. Abgetrennt vom jüdischen Erbe, verlor die Christenheit eine wichtige Inspirationsquelle, und auch unter den grossen christlichen Theologen breitete sich Antisemitismus aus. Erst seit einigen Jahrzehnten werden wieder die gemeinsamen Wurzeln der zum gleichen Stamm gehörenden Religionen gesucht.
Ein gesunder Weg zwischen einer Nichtbeachtung des jüdischen Erbes und einer romantischen Verklärung des Judentums ist weiterhin gesucht. Ein Grund mehr, sich mit dem Römerbrief vertieft zu beschäftigen.
Datum: 06.02.2007
Autor: Felix Ruther
Quelle: Bausteine/VBG