«Ohne Konflikt gibt es keinen Frieden»
Marcus Weiand, kann man sagen, dass
Sie christlichen Gemeinden helfen, Friedensstifter in der Welt zu seinen?
Marcus Weiand: Ja, das ist durchaus eine Formulierung,
die ich gerne verwende. Denn Menschen, die etwas vorleben, haben eine grosse
Wirkung. Leiter, die eine bestimmte Art haben, mit Konflikten umzugehen, sind
Botschafter, denn ihr Verhalten hat ansteckende Wirkung. Christen sollten ein
Vorbild sein; so wünsche ich mir das für unsere Gemeinden.
Ein Beispiel in dieser Richtung gab uns vor einigen Jahren eine Gemeinde in Kolumbien. Fast alle Mitglieder der Kirche hatten durch die Gewalt von Rebellen Familienangehörige verloren. Trotzdem waren sie entschlossen, sich in der Vergebung zu üben. Das hatte ansteckende Auswirkungen auf das gesamte Dorf und führte letztlich dazu, dass die Rebellengruppe an einer Veranstaltung – einem Versöhnungstreffen – um Vergebung bat, worauf ihnen vergeben wurde. Die Menschen konnten sagen: «Jesus hat mir vergeben – ich will anderen auch vergeben.»
Friede und Vergebung gehören zum Kernanliegen christlicher Gemeinden. Christen sollten Friedensstifter nach dem Vorbild Jesu sein. Gleichzeitig sind diese Ansprüche oft ein Hinderungsgrund, sich Konflikten zu stellen. Das Zusammenspiel von Gemeinde und Frieden – ja, das sollte eins sein, aber auf einer gesunden Basis.
Was wäre diese gesunde Basis? Und warum kann die
christliche Friedensbereitschaft hinderlich sein, Konflikte auszutragen?
Frieden ist nicht das Gegenteil von Konflikten! Der
Friede braucht manchmal sogar den Konflikt. Ohne Konflikte gibt es kein
Wachstum. An Konflikten zu wachsen, bedeutet allerdings auch,
Wachstumsschmerzen zu haben – wie bei manchen heranwachsenden Kindern. Beim
Wachstum tun Veränderungen oft weh; vielleicht einfach nur dadurch, dass man
sich von geliebten Schuhen verabschieden muss, die zu klein geworden sind.
Übertragen auf die Gemeinde heisst das: Konflikte gehören nicht nur dazu, sie sind sogar notwendig für das Wachstum. Leider wird die Abwesenheit von Konflikten oft verwechselt mit Frieden. Deshalb werden Probleme häufig heruntergespielt oder vermieden. Eine gesunde Basis der Gemeinschaft zeigt sich darin, dass Konflikte offengelegt und ausgetragen werden, und so Frieden entstehen kann. Dazu brauchen die Menschen in Führungsverantwortung spezifisches Handwerkszeug – aber das kann erlernt werden.
Es gibt offenbar immer wieder genügend Stoff für
Konflikte. Was macht es Gemeinschaften mitunter schwer, damit in Frieden
umzugehen?
Neben dem Verständnis, der Frieden sei erreicht, wenn
nicht gestritten wird – also dem Verdrängen von Konflikten – ist es oft die
mangelnde Kommunikation. Gute Beziehungen zwischen einzelnen Menschen und in
Gruppen hängen stark davon ab, wie man miteinander redet. Eine gelingende
Kommunikation ist ein wichtiges Führungsinstrument, das unnötige Konflikte
verhindert.
Darüber hinaus tragen allzu bekannte Aspekte zu Konflikten bei. Meist sind es eingespielte Muster wie das Rechthaben-Müssen, das ständige Sich-Verteidigen oder der Drang, den anderen unbedingt überzeugen zu wollen; insgesamt ist es die mangelnde Fähigkeit, sich auf den andern einlassen zu können. Der kritischste Faktor bei allen Konflikten ist die «Angst». Dieser Aspekt ist mir in meiner Beratung besonders wichtig. Die Angst vor der Veränderung oder davor, dass sich etwas nicht nach den eigenen Vorstellungen entwickelt.
Unter diesen Umständen können selbst Kleinigkeiten reichen, dass ein lange verborgener Konflikt ausbricht, eskaliert und eine Gemeinde dadurch erschüttert wird. Der Wechsel des Pastors kann ein solcher Anlass sein, interne Unstimmigkeiten im Leitungsteam oder Vorfälle, welche die Gemeinde gegen das Leitungsteam aufbringen. In solchen Situationen kann es sein, dass in die psychologische Trickkiste gegriffen wird: Da gibt es Unterstellungen, die per e-Mail-Verteiler verbreitet werden, bis hin zu regelrechtem Mobbing.
Auf der anderen Seite gibt es aber auch Gemeinden, die sich Konflikten stellen. Ihre Mitglieder strecken gegenüber Andersdenkenden die Hand aus: Sie bleiben auch dann noch im Kontakt, wenn die Meinungen sehr unterschiedlich sind. Ich kenne viele Beispiele von Gemeinden, deren Glaube so stark war, dass sie, trotz unterschiedlicher Ansichten, am Vertrauen und an der Hoffnung festhielten.
Migration ist ein neues Thema, das auch christliche
Gemeinden betrifft. Ist die Integration von andern Kulturen eine besondere
Herausforderung für das Miteinander?
Die Fragen rund um die Migration sind ein sehr gutes
Beispiel für den Umgang mit Konflikten. Denn dabei geht es in besonderer Weise
um Sorgen, die Angst auslösen. Ein Beispiel aus unserer Beratungspraxis ist
eine Gemeinde, die eine Vielzahl arabischer Christen aufgenommen hatte, wodurch
für alle unerwartet grosse Probleme auftauchten.
Das Hauptthema war und ist immer, dass man sich überhaupt erst einmal mit anderen Kulturen auseinandersetzen will. Jede kulturelle Gruppe denkt, dass ihre Methoden und Wege denen der andern überlegen sind. Diesen Mechanismus zu verstehen, ist der erste Schritt, um Konflikte anzugehen. Der zweite Schritt ist zu verstehen, was eine Kultur überhaupt ausmacht. Die Grundvoraussetzung ist auch hier – wie bei jeder Konfliktarbeit –, nicht verurteilend zu sein, sondern sich offen auf das Andersartige einlassen zu wollen. Dazu müssen die unterschiedlich geprägten Menschen miteinander reden und sich austauschen.
In welcher Weise unterstützen Sie Gemeinden mit Ihrer
Beratung? Wie sieht der Weg aus, der aus dem Konflikt herausführt?
Was in der Gemeindearbeit hilft, ist die grundsätzliche
Bereitschaft, dem Evangelium zu folgen. Ich will Gemeinden ermutigen, sich
bewusst zu sein, dass manche Sorgen und Ängste erst einmal eine Fantasie über
das sind, was passieren könnte. Im Gespräch mit Menschen, die mir mit ihrer Meinung
«Angst» verbreitenmachen, kann manches Problem schnell relativiert werden.
Wichtig ist mir auch, dass es in diesen Prozessen um eine Konflikt-Transformation geht: Konflikte sollen also in etwas anderes umgewandelt werden. Ein Konflikt zeigt, dass etwas nicht mehr passt, dass eine Veränderung ansteht. Wer sich dem Konflikt stellt und ihn konstruktiv angeht – im Hören auf Gott und auf einander – kann den Konflikt transformieren und ihn so umwandeln, dass die beteiligten Personen im Prozess an Reife gewinnen. Die Konflikt-Transformation setzt die Erkenntnis voraus, dass der Konflikt etwas Wichtiges transportiert und einen Samen von etwas Gutem in sich trägt.
In der Beratung benötigen die Gemeinden manchmal lediglich jemanden, der die richtigen Fragen stellt, damit eine neue Perspektive entstehen kann. Ich finde es spannend zu sehen, wie Menschen während einer Beratung neue Optionen entwickeln und wieder Kraft für anstehende Herausforderungen haben.
Allerdings kann eine Beratung auch mit einer Trennung enden. Es kommt nicht oft vor: Trotzdem kommt es manchmal zu Trennungen. Es kann sein, dass Menschen die Gemeinde verlassen. Das ist sehr schmerzlich, aber auch das kann im Frieden vor sich gehen – so wie bei Abraham und Lot.
Ein Kommunikationsstil, der Beziehungen zwischen Menschen fördert und Teil des Führungsstils ist, will eingeübt sein. Auch dabei können wir Gemeinden unterstützen. In der Auseinandersetzung mit dem, was der andere sagt, können Brücken der Verständigung entdeckt werden. Es geht darum, in den Gesprächen von den anfänglichen Positionen wegzukommen und hinzukommen zu den dahinterliegenden Interessen und Bedürfnissen. Schön ist für mich immer, wenn sich in solchen Runden die Gesichter plötzlich verändern und sich ein Verstehen abzeichnet. In Liebe die Wahrheit sagen: Das erhoffe ich mir für die Gemeinden, wenn sie ihre Konflikte angehen wollen.
Marcus Weiand ist Theologe, Sozialethiker und Leiter des Instituts für Konflikttransformation «Compax» in Liestal. Er ist spezialisiert auf die interkulturelle Transformation von Konflikten und die Beratung internationaler Organisationen. Das Institut «Compax» bietet: Supervision und Coaching für Menschen in Leitungsfunktion, die in einer Konfliktphase Begleitung suchen und Beratung von Gemeinden und christlichen Organisationen in Konflikten.
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Datum: 02.10.2018
Autor: Heike Wassong
Quelle: Magazin INSIST