«Ausbreitung eines Phänomens»

Manifestiere – das Universum hört zu!

Weiter in die Zukunft denken - und manifestieren, was werden könnte. Ein neuartiger Trend
Eine neue spirituelle Welle hat die Pop-Kultur ergriffen: Durch «Manifestieren» soll es möglich sein, jeden Wunsch und jede Vorstellung Wirklichkeit werden zu lassen.

«Manifestiere, denn das Universum hört zu: Wie eine neue Welle von Spiritualität in einer aufgeklärten Gesellschaft Einzug hält.» Unter diesem Titel beschreibt zum Beispiel die Autorin Esthy Rüdiger in der NZZ, wie mittlerweile Millionen von – an sich säkularisierten – Menschen in aller Welt überzeugt sind, unsichtbaren Gesetzen des Universums zufolge ihr Schicksal zu beeinflussen und ihre Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen. Unter «manifestieren» verstehen die neuen Gläubigen die Praxis, «sich Glaubenssätze, sogenannte Affirmationen, immer wieder zusprechen, als wären sie bereits eingetroffen. Befolgt man dabei gewisse Regeln, so die Überzeugung, wird sich das Erwünschte schliesslich in der Realität zeigen, oder eben manifestieren.»

Früher Esoterik, heute Mainstream

Das Manifestieren sei «längst Teil der Pop-Kultur. Die Sängerin Ariana Grande sagt, sie habe sich ihre Karriere manifestiert, das Model Cara Delevingne gibt an, sich gerade ihr künftiges Baby zu manifestieren, und auch die Talkmasterin Oprah Winfrey will ihre Rolle in `The Color Purple` manifestiert haben.» Was bis Anfang des 21. Jahrhunderts lediglich von esoterisch angehauchten Menschen praktiziert wurde, ist nicht zuletzt dank der sozialen Medien und ihrer Influencer heute ein Massenphänomen: «Videos mit dem Hashtag #manifestation sind auf Tiktok bereits über 8 Milliarden Mal angeschaut worden. Auch Instagram und Youtube sind gesättigt. Über Accounts wie `Mel Robbins` (430'000 Follower auf Tiktok, 1,3 Millionen auf Youtube) oder `Manifestation Babe` (340'000 Follower auf Instagram und 3 Millionen Podcast-Downloads) ist der Trend bei Menschen fernab der klassischen Esoterikszene angekommen.»

Seit dem 19. Jahrhundert bekannt

Einen Durchbruch erlebte die Bewegung 2006, als die australische Autorin Rhonda Byrne mit dem Selbsthilfebuch «The Secret» einen Bestseller landete. Bis heute verkaufte sie weltweit 35 Millionen Exemplare davon und verdiente die dreifache Summe an Dollars damit. Ihr «Geheimnis» sei dabei keineswegs neu, wie Rüdiger beschreibt, sondern gehe auf die sogenannte Neugeist-Bewegung des 19. Jahrhunderts zurück. Der Heilpraktiker und Philosoph Phineas Parkhurst Quimby sah Gott als eine Art heilenden Allgeist; Krankheiten seien Folgen negativer Gedanken.

Die verschiedenen Neugeist-Strömungen würden sich zwar am christlichen Gott orientieren; dieser wird aber nicht personal verstanden, sondern werde «als schöpferische Energie (…) als universelle Gegenwart, die alle und alles verbindet» betrachtet: «Der Mensch ist in dieser Vorstellung also nicht nur blosses Geschöpf, das dem allmächtigen Gott ausgeliefert ist, sondern steigt selbst zu etwas Gottähnlichem auf, das selbst erschafft.»

«Weg von dem alten Mann»

Warum haben in unserer aufgeklärten Welt solche Praktiken einen dermassen grossen Zulauf? Nach dem Soziologen Michael Schneider (München) gebe es in unserer säkularen Gesellschaft «eine grosse Sehnsucht nach der Wiederverzauberung der Welt». Schneider: «Wir wollen weg von diesem personalen Gott, weg von diesem alten Mann, und wenden uns stattdessen hin zu einer subjektiven Sinnbastelei, wie sie in eine individualisierte Gesellschaft gehört.» Darum: «Gott ist nun Universum. Beten heisst nun Manifestieren. Und statt Pastoren lehren zahlreiche Coachs, wie Spiritualität richtig gelebt wird.»

Gedanken haben Wirkung

Es wird nicht abgestritten, dass Gedanken – positive und negative – einen Einfluss auf unser Verhalten haben. Sowohl Psychologen – als auch christliche Therapeuten, das sei ergänzt – wissen, dass wir unser eigenes Unterbewusstsein durch unsere Gedanken ständig beeinflussen. «Wenn ich mir immer wieder vorstelle, eine erfolgreiche Anwältin zu sein, die gerade einen Prozess gewonnen hat, strahle ich diese Sicherheit und Positivität auch aus – und gelange womöglich tatsächlich zum Ziel», erklärt die Psychologieprofessorin Brigitte Boote (Zürich). Umgekehrt auch: Verinnerlichte «schreckliche Leitsätze» könnten durch positive ersetzt werden, aber das brauche «eine ernsthafte Auseinandersetzung mit sich selbst».

Das grosse Problem

Soziologe Schneider zeigt aber den Irrtum auf, der hinter diesen Angeboten steckt: «Wir glauben, uns endlich befreit zu haben aus dem Gehäuse der Hörigkeit von Kirche und Religion. Stattdessen begibt man sich in eine neue Hörigkeit.» Denn: «Funktioniert das Manifestieren, schreibt man dies dem Universum zu. Verfehlt man aber sein Ziel, hat man es womöglich nicht richtig gemacht – und muss sich einen weiteren Kurs beim Coach buchen.»

Autorin Rüdiger analysiert: «Die neue Welle der Spiritualität ist vor allem eines: ein Markt. Die zahlreichen Bücher, Kurse, Videos, Podcasts sind Angebote im Süssigkeitenladen für übernatürliche Erfahrungen, in dem sich jeder Sinnsuchende nimmt, was für seine spirituelle Reise dienlich ist.» Und weiter: «Doch Süssigkeiten haben eine Kehrseite. Sie sorgen für ein kurzes Hoch, aber den eigentlichen Hunger stillen sie nicht. Was, wenn eine Frau mit Kinderwunsch trotz fleissigem Manifestieren nicht schwanger wird? Was, wenn das Geld am Ende des Monats auch mit Manifestieren nicht ausreicht, um die eigene Familie zu versorgen?» In solchen Fällen hält der Soziologe Schneider Manifestationen für gefährlich. «Wenn jeder jeden Aspekt seines Lebens durch Gedanken positiv beeinflussen kann, heisst das, zu Ende gedacht: Jeder ist selbst verantwortlich für sein Leid.» In einer Notlage werde diese Haltung schnell zynisch, sagt Schneider: «Damit bin ich nicht Opfer von Verhältnissen, sondern eben selbst schuld.»

Bekommt nun die Testperson «Amanda Nold» die Wohnung, die sie unbedingt haben möchte, wenn sie sie regelmässig manifestiert? Rüdigers Fazit: «Letztlich ist das gar nicht wichtig. Wer glaubt, dass Manifestationen funktionieren, wird auch bei einer Absage davon überzeugt sein, dass es so kommen musste. Nold würde nur jene Wohnung erhalten, die für sie bestimmt ist. Und wer weder an ein Universum noch an ein Schicksal glaubt, den wird auch eine Zusage nicht überzeugen.»

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Datum: 03.07.2024
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet / NZZ

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