Ich sitze im Tram. Ich bin müde, mein Blick schweift gelangweilt und ziellos aus dem Fenster. Dabei fängt er einiges ein. Es gibt viel zu sehen in der Stadt: Werbeplakate, Menschen, Plakate mit Menschen, Schaufenster, Werbung, noch mehr Menschen. Die Plakate gefallen mir besser. Die Menschen auf der Strasse sind zu normal, die geben nichts her. Dann doch lieber eine Bikinischönheit im Grossformat. Bikinis bekommt man im Winter sonst nicht zu sehen. Plakate stört es auch nicht, wenn man sie anstarrt. Seit ich denken kann, gibt es Plakate. Man kann ihnen nicht aus dem Weg gehen. Das ist gut so, denn sie sind sehr nützlich. Wo sonst sollte ich einen brauchbaren Massstab für Schönheit finden? Alle schauen Plakate an. Das ist gut so, denn damit haben wir die gleichen Vorstellungen von Schönheit. Ein guter, angelernter Massstab, massenkonform. Pech nur für diejenigen, die anders sind, als die Plakate zeigen. Die fallen zwischendurch. Aber es gibt ja genug Plakate für alle! Meine Freundin ist auf keinem Plakat. Manchmal bereitet mir das Schwierigkeiten. Im Vergleich ist sie zwar realer, aber trotzdem anders, als mir die Plakate zuzwinkern. Und schon scheint sie mir weniger schön. Die Messlatte ist zu hoch angesetzt. Ich bin enttäuscht, und sehne mich innerlich nach einem Plakat. Und dann kommt Gott und sagt: "Dieser Plakat-Massstab ist nichts wert." - "Das ist sehr tröstlich," finde ich, "nur denkt der Rest der Welt anders!" Gott zuckt lediglich mit den Schultern und drückt mir einen Massstab in die Hand. Er gibt mir die Freiheit, ihn dort anzusetzen, wo ich möchte. Gespannt nehme ich ihn und schreibe den Namen meiner Geliebten darauf. Plötzlich ist sie das Mass aller Dinge, ein wundervolles Geschöpf, strahlend schön von Kopf bis Fuss und von Innen bis Aussen, mein Blickfang und mein Herzstück. Mein Blick bleibt wieder an einem Plakat hängen, und der alte Massstab ist zurück. Den werde ich nicht so leicht los. Er scheint stärker zu sein als der neue. Ist ja auch besser vertreten, auf den Plakaten. Meine Freundin weiss das. Um mir zu helfen, versucht sie, die Differenz zwischen dem neuen und dem alten Massstab zu verringern, indem sie z.B. Kleider anzieht, die mir gefallen. Oder die Haare färbt. Oder ein wenig Make-up aufträgt. Das gefällt mir. Damit wird das Umdenken einfacher. Ich lehne mich zurück und danke Gott. Simon Kaldewey ist 23 Jahre alt und arbeitet bei den Vereinigten Bibelgruppen (VBG) als Schülerberater in der Region Baselstadt/land. Berufsbegleitend studiert er Theologie am IGW (Institut für Gemeindebau und Weltmission).
Datum: 29.04.2002
Autor: Simon Kaldewey
Quelle: Jesus.ch