Missbrauch – heraus aus der Schweigefalle
«Bei uns kommt so etwas nicht vor!», ist die blauäugige Behauptung in vielen Kirchen und Gemeinden. Leider entspricht sie nicht der Wirklichkeit. Denn sexueller Missbrauch macht nicht Halt vor Kirchentüren und Familien, die Gottesdienste besuchen. Bei verantwortungsvollem Umgang mit diesem heiklen Thema kann die Gemeinde aber sehr wohl ein sicherer Raum werden, ein Ort der Heilung für Betroffene. Opfer, die in ihrer Gemeinde Bestätigung erfahren, lernen, dass der Schmerz Teil ihrer Biografie ist, aber nicht ihre Persönlichkeit ausmacht. Sie brauchen unbedingt professionelle therapeutische Hilfe. Darüber hinaus gibt es allerdings einiges, was jede Kirche oder Gemeinde leisten kann und soll. Die klinische Sozialarbeiterin Mary Ellen Mann nennt folgende konkrete Aufgaben:
Die brutalen Fakten realisieren
Es tut weh, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Noch schmerzhafter ist es allerdings, sie zu ignorieren. Weltweit erfährt jede dritte Frau in ihrem Leben sexuelle Gewalt. Vergewaltigung ist die Form der Kriminalität mit dem grössten Zuwachs, die gleichzeitig am seltensten angezeigt wird. In Deutschland werden täglich schätzungsweise 40 Kinder sexuell missbraucht, also um die 15'000 Kinder jährlich. Die meisten dieser Straftaten finden im familiären Umfeld statt, deshalb ist von einer enormen Dunkelziffer auszugehen. Fazit des Vorsitzenden der Deutschen Kinderhilfe, Rainer Becker, ist denn auch: «Die Gewalt gegen Kinder ist in Deutschland immer noch trauriger Alltag.»
Prävention für Kinder-Mitarbeiter
Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich im Kindergottesdienst, der Jugendarbeit oder anderen Bereichen mit Minderjährigen beschäftigen, sollten geschult werden, was den Umgang mit Missbrauch angeht. Praktisch jede Denomination bietet Infomaterial zu Kindeswohl und Kindesschutz an (z.B. die Evangelische Jugend). Eine Schulung zu diesem Thema sensibilisiert die Mitarbeiter – und zeigt potenziellen Tätern, dass sie hier kein ungestörtes Betätigungsfeld finden. Darüber hinaus vermittelt solch ein Training den Eltern, dass ihre Kinder hier sicher sind.
Das Problem von der Kanzel ansprechen
Missbrauchsopfer brauchen Ermutigung. Gerade unter vier Augen sollten sie immer wieder in ihrem Wert und ihrer Würde bestätigt werden. Aber das darf nicht alles sein. Bei einer so hohen Zahl von Opfern und Tätern gehört das Thema Missbrauch auch immer wieder in die Predigt.
Auf Hinweise hin handeln
Wenn sich jemand in der Gemeinde als Missbrauchsopfer outet, verdient er oder sie zunächst einmal Vertrauen. Die meisten Opfer müssen erschreckend viele Anläufe nehmen, bis sie jemanden finden, der ihnen glaubt, dabei sind statistisch nur zwei Prozent solcher Äusserungen falsch. Nach der Information wird es praktisch: Jetzt sollte man die berichtende Person fragen, ob man helfen kann und die Polizei, das Jugendamt, den Kinderschutzbund oder andere vertrauenswürdige Erwachsenen einschalten. Auch Therapie- und Hilfemöglichkeiten sollte man sehr bald ansprechen. Die Suche nach den richtigen Stellen dauert meist länger und Hilfe ist dabei sehr willkommen.
Gerechten Zorn zeigen
Im Gemeindekontext hat Wut über den geschehenen Missbrauch und den Täter oft keinen Raum – solch eine Haltung wird schnell als «ungeistlich» abgelehnt. Doch die Schwere der Tat und die traumatischen Erlebnisse machen es geradezu notwendig, dass das Opfer Ärger, Zorn und Enttäuschung zeigen kann. Mit am Schlimmsten ist es, Betroffene mit Bibelversen abzuspeisen: «Ist es nicht gut, dass uns alles zum Besten dienen muss?» Hier oder beim schnellen Einfordern von Vergebung ist Sensibilität gefragt.
Zu Seelsorge ermutigen
Neben einem Netz von professionellen Therapeuten, Anwälten, Sozialarbeitern etc. im Umfeld kann es auch sinnvoll sein, in der Gemeinde selbst Seelsorge anzubieten. Gerade für den Bereich des Missbrauchs ist es allerdings nötig, dass die entsprechenden Helfer geschult sind. Andererseits wiegt das, was in der Gemeinde getan wird, meist schwerer als das, was gesagt wird. Missbrauchsopfer sind sehr sensibel für leere Worte, denen keine Taten folgen.
Massstäbe fürs Handeln
Wir sind uns bewusst, dass Missbrauch überall geschehen kann, deshalb schauen wir nicht weg. Nie.
Wir nehmen Hinweise auf Missbrauch ernst.
Wir bringen jeden Missbrauch zur Anzeige. Immer.
Wir schützen die Opfer, nicht die Täter und nicht den «guten Ruf» der Gemeinde.
Kirchen und Gemeinden sind keine besonderen Brutstätten für sexuelle Übergriffe. Aber sie sind auch nicht besonders dagegen geschützt. Daher brauchen wir die Augen Jesu für die Schwachen, Bedrohten und Missbrauchten um uns herum, um sie zu sehen, für sie da zu sein und sie zu schützen. Gemeinden, die sich für missbrauchte Menschen einsetzen und das Schweigen brechen, retten Leben und setzen Zeichen der Hoffnung.
Zur Webseite:
Walking into Freedom
Castagna
Mira
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Datum: 15.11.2015
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / Relevant Magazine