«Ein Wunder, haben alle überlebt!»
Grosse Regenzellen gab es diesen Sommer häufig. «Das Gebilde auf meiner WetterApp an jenem Augustabend bewegte sich aber verdächtig langsam», erzählt Daniel Grossmann. Zu diesem Zeitpunkt stand er beim Forsthaus, beobachtete die ungewohnte Wetterlage und machte sich umgehend auf den Weg, die umliegenden Bäche zu kontrollieren. Unterwegs erfuhr er, der Milibach sei stark angeschwollen, die Lage in Brienz-West kritisch, die Feuerwehr vor Ort und erste Keller seien bereits vollgelaufen.
Was dann folgte, sorgte über die Landesgrenzen hinaus für Schlagzeilen. Gegen 18.30 Uhr trat der Milibach über die Ufer. Brausende braune Wassermassen mit Holz und Geröll wälzten sich durchs Dorf, rissen mit, was sich im Weg befand, fluteten den Bahnhof und strömten in den See. 70 Personen wurden evakuiert, Menschen verloren Haus, Hab und Gut.
«Die meisten Leute wussten sich in Sicherheit zu bringen, handelten instinktiv richtig.»
Randvoller Geschiebesammler
In der Woche nach dem Unglück habe eine grosse Anspannung geherrscht, schwierige Entscheidungen mussten getroffen, das Wasser in den See geleitet, Gelände und Bachbett freigeräumt werden. All dies, ohne die Arbeiter und weitere Anwohner in Gefahr zu bringen. Schnell wurde klar: «Der Geschiebesammler, welcher 2017 fertiggestellt wurde, war mit 12'000 Kubikmeter Material randvoll. Er hatte die erste Front aufgefangen und eine schlimmere Lage verhindert. Darunter türmte sich ein Schuttkegel mit 50'000 Kubikmeter Steinmassen, Erdreich, Geröll und Gehölz.»
«Der Milibach überraschte uns, das Ereignis entwickelte sich in sehr kurzer Zeit und Nebel versperrte den Blick auf den Wasserfall», berichtet Grossmann. So sei für ihn und die weiteren Fachleute eine frühere Warnung nicht möglich gewesen. «Es ist ein grosses Glück und Wunder, dass alle überlebt haben. Die meisten Leute wussten sich in Sicherheit zu bringen, handelten instinktiv richtig.»
Erinnerungen ans Unglück 2005
Für den Vater einer einjährigen Tochter, der selbst in der Nähe des Milibachs wohnt, war es der erste Einsatz als Naturgefahrenberater des Regionalen Führungsorgans RFO Oberer Brienzersee. Beim verheerenden Murgang im August 2005, bei dem sechs Menschen ihr Leben verloren, war Daniel Grossmann in der sechsten Schulklasse. Zwei Jahre später wurde das Regionale Führungsorgan (RFO) Oberer Brienzersee gegründet, um die Bevölkerung in ausserordentlichen Lagen zu informieren und zu unterstützen. Nebst seiner Arbeit als Abteilungsleiter in einem Forstbetrieb und seinem Amt als Revierförster engagiert sich Daniel Grossmann seit 2021 im RFO.
«Im Dorf herrscht eine Mischung aus Dankbarkeit, dass alle noch leben, und zugleich Frust oder Überforderung bei denjenigen, die nichts mehr haben.»
Auch emotional herausgefordert
Schutt kann zur Seite geschafft werden – die Verluste der Menschen bleiben. Daniel Grossmann über die Gefühlslage der Bevölkerung: «Im Dorf herrscht eine Mischung aus Dankbarkeit, dass alle noch leben, und zugleich Frust oder Überforderung bei denjenigen, die nichts mehr haben.» Solchen Menschen zu begegnen und zu helfen, sei schwierig, sagt er und fügt an: «Es sind viele Familien betroffen. Jetzt gilt es, nach Alternativen zu suchen und wieder Perspektiven zu schaffen. Gerade die Kinder dieser Familien tun mir leid – das Ganze nimmt mich emotional stark mit.»
Heftige Emotionen bei der Brienzer Bevölkerung löst auch der beschädigte, zurzeit geschlossene Friedhof aus. Pfarrer Martin Gauch sagte nach dem Unglück gegenüber SRF: «Alle in Brienz haben Erlebnisse mit dem Friedhof, haben von jemandem Abschied genommen.»
«Vor diesem Hintergrund sind Ereignisse wie der Milibach-Murgang auch gut, um uns alle Ehrfurcht und Demut zu lehren.»
Umdenken
Daniel Grossmann, der in einfachen Verhältnissen auf einem Bauernhof aufwuchs und jeweils im Sommer auf der Alp lebte, pflegt zeitlebens eine intensive Beziehung zur Natur. Auf die Frage nach der Zukunft wird er nachdenklich: «Die Natur hat wunderbare eigene Gesetze. Es ist wichtig, dass wir den Kindern die Zusammenhänge unseres Ökosystems näherbringen, sie über die Folgen menschlichen Verhaltens aufklären und nicht nur den technologischen Fortschritt im Blick haben. Vor diesem Hintergrund sind Ereignisse wie der Milibach-Murgang auch gut, um uns alle Ehrfurcht und Demut zu lehren. Die Kraft der Natur ist grösser als alle unsere Schutzmassnahmen oder menschlichen Möglichkeiten. Wenn wir den Respekt vor der Natur verlieren, kann sich das rächen.»
Zur Person:
Meine liebste Jahreszeit:
Der Wechsel machts aus. Ich möchte auf keine Jahreszeit verzichten müssen.
Meer oder Berge?
Die Berge, sie sind ständige Begleiter bei der Arbeit und in der Freizeit.
Heimlich altern oder riesige Geburtstagsparty?
Zwischendurch mit einer Party das Leben feiern, passt schon.
Datum: 25.10.2024
Autor:
Florian Wüthrich / Manuela Herzog
Quelle:
Hope Regiozeitung