Gegen jedes Gefühl

Selbstfürsorge als Schlüssel zum Dienst

Steve Cuss; Author, Trainer, Pastor und Gründer von Capable Life
«Achte zuerst auf dich selbst» und «Sei für andere da» muss kein Widerspruch sein. Doch ohne ein gesundes Mass an Selbstfürsorge ist der Einsatz für andere Menschen auch im christlichen Bereich auf Dauer nicht möglich.

Darauf hatte ihn niemand vorbereitet! Steve Cuss wusste schon länger, dass er einen sogenannten geistlichen Dienst ausüben wollte, also hatte er eine Bibelschule besucht und sich anschliessend als Krankenhausseelsorger beworben. Er wollte Menschen in Krisen beistehen und sie auf Gott hinweisen. Dann kam sein erster Arbeitstag. Im turbulenten Krankenhausalltag stellte man dem damals 24-Jährigen kurz seine Ansprechpersonen vor, drückte ihm einen Piepser in die Hand, damit er erreichbar wäre und zeigte ihm seinen Arbeitsplatz. Doch es gab keine Zeit zum inneren Ankommen: Nur Minuten später meldete sich der Piepser und Steve fand sich in einem Krankenhauszimmer voll weinender Menschen wieder, die gerade erfahren hatten, dass ihre Mutter die OP nicht überlebt hatte. Er redete, er tröstete, er betete – und er war hoffnungslos überfordert.

Der Sprung ins kalte Wasser

Alle schienen davon auszugehen, dass Cuss als Profi damit umgehen könnte, von einem angsterfüllten Raum in den anderen zu gehen: Plötzlicher Tod, Knochenmarktests, kahle Kinder und Notoperationen bestimmten seine Arbeit und erfüllten nicht nur andere mit Angst, sondern zu seiner Überraschung auch ihn selbst. Was Steve Cuss erlebte, ist nicht auf die USA beschränkt und leider auch längst nicht überwunden. Weil viele Menschen in Helferberufen selbst keine tragfähige Einführung erhielten, geschieht der «Sprung ins kalte Wasser» noch viel zu oft. Praktische Kompetenzen wie Gesprächsführung werden im Vorfeld vermittelt, aber was ist mit eigenen Ängsten? Und wie geht man mit einer dauernden psychischen Belastung um?

«Als Gläubiger hast du Christus an deiner Seite – und er ist höchstens ein Gebet weit entfernt…» gehört zu den Sätzen, die man in solchen Situationen immer noch zu hören bekommt. Das Perfide daran ist, dass sie zwar nicht verkehrt sind, dass ihnen allerdings «der Griff» fehlt, an dem man sie packen und in den eigenen Alltag integrieren kann. Steve Cuss lernte im Laufe des ersten Jahres die Systemtheorie kennen, die auch im christlich-therapeutischen Bereich zur Behandlung von Ängsten eingesetzt wird.

Überforderung oder Selbstfürsorge?

Ein Schlüsselmoment für den Seelsorger war es, als ein Arzt ihm während einer besonders herausfordernden Schicht am Bett eines Verstorbenen sagte: «Wenn das Herz eines Menschen aufhört zu schlagen, nehmen Sie zunächst einmal Ihren eigenen Puls.» Was sich völlig falsch anfühlt, weil man ja gekommen ist, um anderen zu helfen, ist laut Cuss der einzig richtige Weg. Ein Unfallhelfer auf der Autobahn muss zuerst die Unfallstelle sichern, bevor er sich um Verletzte auf der Strasse kümmern kann. Die Flugbegleiterin im Flugzeug sagt es vor jedem Start durch: «Setzen Sie sich im Notfall die Sauerstoffmaske erst selbst auf, bevor Sie anderen dabei helfen.» Steve Cuss formuliert es für Menschen in Helferberufen um: «Du kannst keinem anderen Menschen helfen, wenn du in deiner eigenen Seele nach Sauerstoff hungerst.»

Verletzte verletzen andere

Beim Fokus auf Selbstfürsorge geht es übrigens nicht um fromm kaschierten Egoismus. Es geht vielmehr darum, dass Leiterinnen und Seelsorger, Pastoren und Helferinnen nur in dem Masse hilfreich sein können, wie sie selbstreflektiert und ruhig agieren. Wer von eigenen Ängsten getrieben wird, überlastet ist und nur schnell Probleme abstellen will, verursacht eher Schaden, als Hilfe zu bringen. Das reicht weit über soziale und helfende Berufe hinaus: Leitungspersonen, die sich selbst keine Grenzen zugestehen, und Übermenschliches von sich erwarten, tun sich unter dem Strich auch schwer, Begrenzungen bei anderen zu akzeptieren und menschlich zu sein. Etliche Fälle von Machtmissbrauch und gescheiterten Leitern in Firmen wie in Kirchen, die in den vergangenen Jahren durch die Presse gingen, sind darauf zurückzuführen. Was hätte anders laufen können, wenn sie zuerst bei sich selbst den Puls gefühlt hätten?

Mensch sein, ohne von sich abzulenken

Steve Cuss ist beruflich inzwischen als Trainer unterwegs, der über seinen Podcast «Being human» und mit Büchern und Seminaren an Themen wie Angst arbeitet. Sein Ansatz ist immer noch systemisch und er versucht, das anzugehen, was «unter der Oberfläche blubbert», wie er es auf seiner Website formuliert: Ängste, Erwartungen, Erschöpfung, Wut. Der erste wichtige Schritt für ihn ist, ehrlich vor sich selbst zu werden. Im Hinterkopf hat er dabei die biblische Geschichte von Jesus, der einmal einen gelähmten Mann an den Jerusalemer «Krankenhausteichen» Bethesda traf. Der Mann lag dort bereits 38 Jahre lang. Darauf ging Jesus jedoch nicht näher ein, als er ihn fragte: «Willst du gesund werden?» Der Kranke war wohl schon zu lange krank, um einfach Ja sagen zu können. Seine Antwort: «Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser bewegt wird…» sollte wohl eher die Situation erklären oder entschuldigen. So nennt Steve Cuss für den Beginn einer Selbstfürsorge und den Umgang mit Angst zwei «Superkräfte»: das Wahrnehmen und die Neugierde. Wer lernt, Angst in sich selbst und bei anderen zu bemerken, steckt sich weniger leicht damit an und verbreitet sie auch nicht. Wer sich selbst und anderen gegenüber eine Haltung der Neugier einnehmen kann, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es ihm gut geht. Cuss fordert jedenfalls dazu auf: «Achte auf dich selbst!»

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Datum: 28.08.2024
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / Steve Cuss / Christianity Today

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