Kinder brauchen Herausforderungen
Die Psychologie spricht beim Thema Widerstandsfähigkeit von «Resilienz». Ein resilienter Mensch kann konstruktiv mit Rückschlägen umgehen, schwierige Lebenssituationen anpassungsfähig meistern, persönliche Krisen mit Ressourcen bewältigen und sich aus Niederlagen flexibel weiterentwickeln. Der Erziehungswissenschaftler Dr. Albert Wunsch hat sich auf dieses Thema spezialisiert. Er erklärt im Interview, wie Resilienz besonders im Umgang mit Kindern gefördert werden kann.
Livenet: Albert Wunsch, wird Kindern die Voraussetzung für eine starke Widerstandsfähigkeit – oder eben Resilienz – in die Wiege gelegt?
Genau das ist nicht der Fall. Aber wir können durch gute Bedingungen des Aufwachsens die Resilienz von Kindern fördern. Die beste Voraussetzung, um als Erwachsener Krisen meistern zu können, ist daher, von Kindesbeinen an eine sichere Geborgenheit innerhalb der Familie erfahren zu haben. Denn je umfangreicher Kinder sich in ihrem Lebensumfeld angenommen fühlen können, je offensiver und mutiger werden sie auf die unterschiedlichsten Herausforderungen reagieren.
Was macht ein selbstbewusstes Kind aus?
Es lässt sich nicht vom ersten Gegenwind umpusten, sieht sich nicht als den Mittelpunkt der Welt, kann nachgeben (nur ein stabiles «Ich» kann das), hat gelernt, mit Spannungen und Konflikten umzugehen, kann auch mit dem Älterwerden immer mehr nachvollziehen, dass Eltern nicht das Attribut der Vollkommenheit besitzen und demnach nicht immer alles richtig machen. So hat es die besten Voraussetzungen, sich immer mehr zu einem liebenswürdigen Menschen zu entwickeln. Diese Fähigkeiten prägten auch Astrid Lindgrens Kinderheldin Pippi Langstrumpf. Was auch passiert, Pippi bietet dem Schicksal die Stirn: Als Kind allein in eine ihr fremde Welt entlassen, ist sie nie auch nur eine Sekunde verzweifelt. Das ist stark. Es geht also um eine Art «Es wird schon gut gehen»-Faktor.
Wie können Eltern die Resilienz ihrer Kinder gezielt stärken? Denn selbst die behütetsten Kinder sind vor seelischen Schmerzen nicht gefeit.
Gerade die überbehüteten Kinder werden die grössten Probleme haben. Denn ihnen fehlt die Übung und Fähigkeit im Umgang mit alltäglichen Erfordernissen oder Belastungen. Die Fähigkeit, Konflikte vermeiden bzw. meistern zu können, ist meist das Ergebnis einer – oft auch leidvollen – Erfahrung im Umgang mit Misserfolgen, Zurückweisungen oder Ungerechtigkeiten. Wachsen stattdessen Kinder im «Schon-Programm» heran, werden sie schon einfache Herausforderungen – z.B. ein Vorhaben nicht jetzt und sofort umsetzen zu können – als Zumutung oder Zurückweisung empfinden. Für manche Kinder bricht schon fast die Welt zusammen, wenn das Lieblings-Dessert ausfällt, sie ihren Redefluss für einen kurzen Zeitraum stoppen sollen, eine schwierige Lernleistung ansteht, im Haushalt Mitwirkung erforderlich ist oder sie im spartanischen Urlaubsdomizil auf warmes Wasser verzichten müssen. Fehlender Handyempfang gestaltet sich dann als subjektiv erlebter Weltuntergang.
Und durch was kann eine solche Förderung bei kleinen Kindern erreicht werden?
Am intensivsten durch altersgemässe und gut begleitete Herausforderungen in sicheren Bindungen. Wenn ich sehe, dass zehn Monate alte Babys auf ein interessantes Spielzeug zurobben und die Eltern nichts Besseres zu tun haben, als den Kindern dieses zu bringen, dann kann ich nur den Kopf schütteln. Herausforderungen zulassen, das ist eines der wichtigsten Elemente in einer resilienzfördernden Erziehung und zugleich der Faktor, an dem viele Eltern scheitern. Kleinkinder und auch Säuglinge können und müssen ihre Ziele möglichst selbst erreichen. Nur wenn ihnen etwas zugemutet bzw. zugetraut wird, können sie auch Kraft im Umgang mit Herausforderungen entwickeln. Und das ist die Voraussetzung dafür, dass sie in schwierigen Situationen nicht sofort kapitulieren.
«Helikopter-Eltern», die ihre Kinder in einem Treibhaus der Verwöhnung aufwachsen lassen, die ständig in einer «Pass-auf-Haltung» stehen und dem eigenen Nachwuchs zu wenig zutrauen, dürfen sich später nicht wundern, wenn das Kind bei kleinsten Belastungen alles hinschmeisst oder als Schulkind unter Prüfungsangst leidet. Die Seele ist wie ein Muskel und seelische Abwehr kann man trainieren.
Wie erklären Sie sich, dass aus einigen Kindern mit schwerer und belastender Kindheit normale und bisweilen sehr starke Erwachsene werden und anderen Kindern dieser Weg verwehrt bleibt?
Kinder, welche in unguten oder schädigenden Lebensumständen aufwuchsen und sich später dennoch zu resilienten Erwachsenen entwickelten, haben sich irgendwann – meist im Alter zwischen 5 und 16 Jahren – entschieden, wenn auch meist nicht als bewusster Vorgang, ein besseres Leben jenseits der Ursprungsfamilie zu suchen. Ab diesem Zeitpunkt orientierten sie sich zum Ausgleich des täglich erfahrbaren Mangels grundlegender Bedürfnisse immer stärker ausserhalb ihrer Familie. So gaben emotional bedeutsame Personen, vorbildhafte Menschen bzw. Lebensläufe oder eine haltgebende Idee, Vision, bzw. religiöse Verbundenheit eine neue Lebensperspektive. Diese Wärme und Zutrauen ausstrahlenden Menschen erhalten damit eine starke Orientierungsfunktion und werden immer mehr als Anker-Punkte ausserhalb der eigenen Mangelsituation genutzt.
Wie ist möglich, dass es vielen Menschen trotz Krisen gelingt, nicht in Depressionen zu versinken, sondern sich irgendwann wieder kraftvoll auf den Weg zu machen? Manche Menschen gehen sogar gestärkt aus einer Krise hervor.
Solche Menschen können in der Regel resilienzfördernde Erfahrungen der Kindheit nutzen, leben in stabilen Beziehungen, sind häufig auch in sinnstiftenden Gemeinschaften eingebunden und verfügen somit über etliche Haltepunkte, die sie vor einem anhaltenden persönlichen Absturz bewahren. Sie scheinen ein deutliches «Dennoch» in sich zu tragen. Das heisst nicht, dass bedrohliche Krisen auch ihnen kräftig zu schaffen machen. Aber sie rutschen nicht so tief bzw. finden schneller Ansatzpunkte zur Gegenbewegung. Immer wieder wird berichtet, dass beispielsweise Menschen nach einer lebensbedrohlichen Krankheitsdiagnose oder nach schweren Unfällen sich nicht dem vermeintlichen Schicksal hingaben, sondern sich diesem mit viel Überlebensmut stellten. Letztlich gibt ihnen das Urvertrauen in sich und andere Menschen die Kraft, dieses – manchmal trotzige – «Jetzt-erst-recht» ins Leben zu tragen.
Haben Sie ein paar konkrete Tipps, wie Eltern das Selbstbewusstsein ihrer Kinder stärken können?
Lassen Sie Herausforderungen für Ihr Kind zu oder schaffen Sie diese. Kinder können sich auch eine Stunde allein im geschützten Laufgitter beschäftigen. Sie benötigen keinesfalls eine Dauer-Versorgung – oder Ruhigstellung – per «Schoppen», sondern regelmässige Trinkzeiten. Durststrecken gehören zum Leben. Hier kann erlernt werden, nicht jederzeit alles sofort haben zu können. Gerade für Familien, in denen sonst alles glatt läuft, ist das für die Kinder wichtig. Kinder sind nicht ständig herumzutragen, in den Kinderwagen zu packen oder vor Mediengeräten zu parken. Echtes Selbstbewusstsein ist das Ergebnis von erbrachter Leistung. Dann gehören sie auch nicht zu den 25 Prozent der Einschulungskinder, deren Bewegungsapparat unter- und das Körpergewicht stark überentwickelt sind.
Die «Pass-auf-Mentalität» vieler Eltern bewirkt, dass Kinder ängstlich werden und mit bestimmten Gefahren nicht umgehen können. Lassen Sie Ihr Kind, wenn es fällt, selber wieder aufstehen. Stürmen Sie nicht sorgenvoll hin – auch wenn es Ihnen schwer fällt. Meistens ist es halb so wild und Ihr Kind lernt, selbst wieder aufzustehen, weiterzugehen. Es wird diese Erfahrung für vergleichbare Situationen nutzen. Das ist ermutigend, auch für das spätere Leben.
Zum Autor
Dr. Albert Wunsch ist Psychologe und promovierter Erziehungswissenschaftler, Diplom Pädagoge und Diplom Sozialpädagoge sowie Kunst- und Werklehrer. Er ist Vater von zwei Söhnen und Grossvater von drei Enkeltöchtern.
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