Was Angelika Wohlenberg in die Steppe Afrikas verschlug
Hier ist ihr Platz: als Hebamme, Lkw-Fahrerin, Missionarin, Krankenschwester und Kämpferin gegen die Mädchenbeschneidung, als Internatsgründerin und Schulleiterin. Die Massai lieben und verehren sie wie eine Heilige. Mit viel Mut, Humor, Einfühlungsvermögen und ihrem Glauben hilft sie ihnen, Veränderungen zu wagen und doch Massai zu bleiben – Menschen mit einer unverwechselbaren Kultur.
„Wenn ich gross bin, gehe ich in die Mission“. – Acht Jahre ist Angelika Wohlenberg alt, als sie diesen Berufswunsch am Mittagstisch verkündet. Die Eltern lächeln: „Wunderbar, Geli. Aber warte mal ab. Wenn du verheiratet bist, sieht das alles anders aus...“ Doch Angelika Wohlenberg hat nie geheiratet. Spitzbübisch lächelnd sagt sie heute: „Zweimal im Leben war ich depressiv: Das erste Mal war ich verlobt, das zweite Mal hatte ich das falsche Malariamittel genommen. Das passiert mir nicht noch mal!“
Frau Wohlenberg ist direkt, unverfälscht, echt. Auch vor der Kamera. Dem Team des ZDF-Magazins „Mona Lisa“ hat sie mitten in einem Boma, einem Massai-Dorf, deutliche Worte ins Mikrofon gesprochen. Über die medizinische Unterversorgung in Schwarzafrika und deren Hintergründe. Und darüber, dass die Massai Lebenssinn brauchen, den sie beim Gott der Bibel finden können.
Tarzan will in die Mission
Als eines von neun Pfarrerskindern wuchs Angelika Wohlenberg mit dem christlichen Glauben auf, erlebte aber auch ganz bewusst das Umfeld einer Missionsarbeit in den Ländern der so genannten Dritten Welt. In dem Pfarrhaus, in dem sie gross wurde, hatte 1876 Christian Jensen die spätere „Breklumer Mission“ gegründet. Besonderheit der Missionsgesellschaft war, dass die ausgesandten Missionare absichtlich getrennt von den Kolonialisierungsvorhaben der europäischen Staaten schauten, wo die „Ärmsten und Elendsten“ lebten, um ihnen Lebenshilfe und das Evangelium zu bringen.
Nach einem Umzug an die dänische Grenze besuchten Angelikas Geschwister zwei Husumer Gymnasien, doch sie selbst war Realschülerin, mehr auf das Praktische ausgerichtet. Nach einer lebensbedrohenden Verletzung – sie stürzte beim Tarzanspielen von einem hohen Baum – hatte sie ohnehin nicht mehr die nötige Lust am Lernen theoretischer Sachverhalte. Als sie Schule mit 16 Jahren beendete, wollte sie am liebsten einen handwerklichen Beruf ergreifen: Kfz-Mechaniker oder Tischler. Aber einen Meister, der Anfang der 70er-Jahre ein Mädchen, noch dazu die Pfarrerstochter, als Azubi einstellt, konnte sie lange suchen.
Doch der Beruf sollte sowieso nur Mittel zum Zweck sein: Angelika Wohlenberg wollte nämlich immer noch Missionarin werden. Also wurde die „wilde Geli“ kurzerhand eine weiss gewandete Schwesternschülerin in Flensburg. Die Diakonissen am evangelischen Krankenhaus übernahmen nicht nur flugs Angelikas Spitznamen Tarzan, sondern nutzten auch gezielt das Talent der burschikosen Schülerin: „Auf Zimmer acht liegen sieben Bundeswehrsoldaten. Die anderen gehen da nicht gerne rein. Tarzan, übernimmst du das Zimmer?“.
In den festen Schranken eines Schwesternheims zu leben, fiel der freiheitsgewohnten Pfarrerstochter nicht leicht. Sie brauchte einen Ausgleich und schaffte sich Freiräume. Kleinere durch im Keller gefangenen Kakerlaken, die sie in einem Glas als Dekoration auf den Tisch im Aufenthaltsraum der Schwestern stellte. Ein grösserer war der heimlich erworbene Motorrad-Führerschein. „Das schlag dir aus dem Kopf, Kind!“, hatten ihre Eltern gesagt, aber als der Führerschein dann doch auf dem Küchentisch lag, meinte die Mutter nur, typisch norddeutsch: „Du Schiedbüttel, du!“.
Die wilde Heilige auf dem Motorrad
Lockerer sah man das in ihrem Lehrkrankenhaus. „Da kommt die wilde Heilige“, hiess es dort, wenn die Schwesternschülerin mit ihrem Motorrad angebraust kam. Und diesen Namen nahm sie auch mit, als sie kurz nach der Abschlussprüfung als Stationsschwester an die Tropenklinik nach Tübingen ging. Dort gab es noch mehr „Verrückte“, die sich freiwillig für exotische Krankheiten interessierten, und auch „Fromme“, die sich einmal in der Woche mit ihr zu einem Gebetskreis trafen.
Weil sie den Kontinent Afrika nie aus den Augen verloren hatte, nahm die junge Schwester auch an Fortbildungskursen des DIFÄM teil, des Deutschen Instituts für Ärztliche Mission. Als Angelika Wohlenberg dort erfuhr, dass im afrikanischen Gesundheitsdienst die Geburtshilfe ein wesentliches Thema sei, begann sie eine zweite Ausbildung als Hebamme. Als Ausgleich machte sie diesmal parallel zur medizinischen Ausbildung den Lkw-Führerschein.
Schliesslich las sie eine Stellenanzeige von einer norddeutschen Missionsgesellschaft: „Gesundheitsdienst auf Rädern durch die Massaisteppe in Tansania“. Es wurde ausdrücklich eine Frau gesucht. Angelika Wohlenberg griff zum Telefonhörer. Am anderen Ende der Leitung war man zwar freundlich, aber reserviert. Man suche bereits seit zwei Jahren jemanden, aber alle bisherigen Bewerber hätten nach genauerem Einblick ins Aufgabengebiet dankend verzichtet. Für die junge Krankenschwester klang aber genau das sehr interessant.
Sie fuhr nach Hamburg, informierte sich, schaute sich alles möglichst genau an und unterschrieb daraufhin den neuen Arbeitsvertrag. „Mein Arbeitsbereich liegt nicht in einem Krankenhaus, sondern in der freien Steppe“, teilte sie ihren Freunden per Brief mit. „Der Einsatz dauert vier Jahre – wenn Gottes Wille dahinter steht, ich gesund bleibe und den Aufgaben gewachsen bin. Vielleicht denkt ihr: Die Arme steht dort ganz allein und opfert sich auf. Aber ich bin doch nie allein, weil Gott bei mir ist. Darum will ich kein Bedauern und Mitgefühl, sondern erbitte vielmehr eure Fürbitte. Auch was meine Eltern angeht, kann ich euch beruhigen. Sie leben voll im Gottvertrauen und wissen, dass ihre Kinder eine Leihgabe Gottes sind, die sie nicht festhalten können.“ Damals ahnte sie noch nicht, dass aus den vier Jahren 23 wurden, zumindest bis heute.
Kulturschock in der Steppe
Man hatte ihr einen Kulturschock vorausgesagt, und sie bekam ihn auch, als sie zum ersten Mal in Richtung des für ihr Arbeitsgebiet zuständigen Krankenhauses in Arusha unterwegs war. In der von Hanna Schott verfassten Biografie „Mama Massai“ heisst es lapidar: „Kann es wahr sein, dass auf dieser halb zugewachsenen Piste Kranke transportiert werden?“ Und wenig später: „Das Innere des Krankenhauses wirkt sehr freundlich. Nur eins ist äusserst unpraktisch: Es gibt keinen Strom, noch nicht einmal einen Generator. ... Die Instrumente für kleinere Eingriffe werden auf einem Holzkohlenfeuer ausgekocht. ...“ Doch noch war Angelika Wohlenberg nicht in ihrem eigentlichen Einsatzgebiet angekommen. Ihr Ziel waren die Nomadenvölker der Massai in der Steppe.
Bei ihrem ersten Einsatz wurde sie von Dr. Nangawe begleitet. Stunden fuhr der Landrover durch unwegsames Gelände, bis sie das erste Boma, ein Massai-Dorf, erreichten. Als Ankömmlinge werden sie dort zur Sensation. Während das Gesundheitsteam die Zelte für die Nacht aufstellte, aus den Benzin- und Wasserkanistern Sitzgelegenheiten bastelte und auf einem kleinen Feuer einen Abendsuppe kochte, wurden sie langsam von den neugierigen Dorfbewohnern umringt. Nur die jungen Männer fehlten, sie waren mit den Herden unterwegs.
Dr. Nangawe und sein Team wurden freudig begrüsst, sie waren schon mal hier. Aber wer war diese Mzungu-Frau? Zwei kleine Kinder liefen bei Angelika Wohlenbergs Anblick weg und riefen weinend: „Ein wildes Tier! Ein wildes Tier!“. Eine Weisse, eine Mzungu, hatten sie noch nie gesehen – und dann noch mit langen blonden Haaren. „Angelika ist in die Steppe gekommen, um zu sehen, was eine mobile Klinik ist“, verkündete Dr. Nangawe nach dem Essen. „Sie weiss, wie man Krankheiten bekämpft, und sie hat auch schon vielen Babys geholfen, auf die Welt zu kommen. Das nächste Mal wird sie euch ohne mich besuchen.“
Eine Massai für die Massai
Angelika Wohlenberg hat sich schnell an den Alltag der mobilen Klinik gewöhnt: Malaria, entzündete Augen, Trachome, eiternde Brandwunden, wegen Wurmbefall geschwollene Bäuche, Durchfall, grauer Star, grüner Star werden behandelt. Anfangs musste Dr. Nangawe übersetzen, aber bald schon wurde Frau Wohlenberg der Sprache mächtig. Sie brauchte nur den entsprechenden Anreiz, das Ziel. Dann fiel ihr Lernen leicht.
Am ersten Abend hatte sie aber noch eine Frage. „Hab ich die Toiletten übersehen?“ – „Es gibt keine. Die Steppe ist ja gross...“ Und genau das ist schon ein Thema für die gesundheitliche Aufklärung. Das Übertragen von Krankheiten durch Fliegen lässt sich viel leichter eindämmen, wenn jedes Boma wenigstens einen Plumpsklo hätte. Davon abgesehen, dass es schon manchem Massai das Leben gekostet hat, wenn er nachts das mit einem Dornenwall geschützte Dorf verlassen hat, um sich zu erleichtern. Denn: „Löwen sind hier eine reale Gefahr“.
Damals ahnte Angelika Wohlenberg noch nicht, dass sie in den kommenden 23 Jahren hunderte Male mit ihrer mobilen Klinik dieses und weitere Bomas besuchen würde. Oft ist sie auch nicht mit dem Auto, sondern mit dem Motorrad unterwegs, das sie sich selbst organisiert. Ein von der tansanischen Kirche zugesagte „Evangelist“, der sie begleiten sollte, um Bibelstunden und Gottesdienste zu halten, während die Krankenschwester im Dorf ist, kam genauso wenig wie das versprochene Geländefahrzeug. Angelika Wohlenberg kann aber auch das ersetzen. Abends am Lagerfeuer redet sie von ihrem Glauben, macht sich vertraut mit den Menschen, wird den Massai eine Massai.
Autor: Ralf Tibusek
Datum: 11.08.2008
Quelle: Neues Leben