Immer mehr Menschen strömen suchend in die Kirchen
Livenet: Herr Schwab, Sie kommen gerade aus dem Konfliktgebiet zurück – was haben Sie angetroffen?
M. Schwab: Im Irak war die humanitäre Situation erdrückend. Längst nicht alle Flüchtlinge sind ausreichend versorgt. Ich war in riesigen Flüchtlingszeltcamps für zigtausende Jesiden, die aus allen Nähten platzen. Ich sah christliche Flüchtlinge aus Mossul, die in leerstehenden Kaufhäusern, Mietshäusern, Rohbauten und Containersiedlungen zusammengepfercht leben oder in abgelegenen Bergdörfern unterkommen. Viele sind ernüchtert und enttäuscht, dass kein baldiges Ende ihrer Flüchtlingssituation in Sicht ist. Je länger die Situation andauert, schwindet ihre Hoffnung auf eine Rückkehr und die Flüchtlinge denken nur noch an das eine: «Wie kommen wir so schnell wie möglich in den Westen?»
Das ist bedrückend. In Syrien ist die Situation noch viel schlimmer. Die Flüchtlinge haben noch viel weniger Unterstützung zum Leben. Es ist eine unvorstellbare humanitäre Katastrophe.
Doch in beiden Ländern habe ich Menschen getroffen, die in die Kirchen strömen, weil sie wissen, dass nur noch Gott ihnen helfen kann. Darunter sind viele, die vorher nicht in die Kirche gingen, auch immer mehr Muslime, die bei den Christen Hoffnung finden.
Wie ist die Lage der Christen, die Sie besucht haben?
Die Christen gehörten früher im Irak und in Syrien zur gebildeten Mittel- und Oberschicht, aber sie haben durch Krieg und Flucht nun alles verloren und sind grösstenteils verarmt. Je länger der Konflikt anhält, wird es für sie immer schwieriger auszuharren. Viele wünschen sich, in den Westen zu kommen, aber ich habe auch Christen getroffen, die sich bewusst für das Bleiben in ihrem Heimatland entschieden haben und mir sagten: «Wir Christen dürfen unser Land nicht im Stich lassen. Gerade jetzt braucht es uns, um Hoffnung zu säen und Zukunft zu bauen.»
Wie allgegenwärtig ist der Konflikt bei den Menschen und gibt es – je nach Gegend – einen Funken von Alltag?
In Syrien markieren allein schon die vielen Stromausfälle und täglichen Versorgungsengpässe den allgegenwärtigen Konflikt. Dennoch gibt es in den Gebieten, wo nicht gekämpft wird, Alltag mit Arbeit, Schule, sonntäglichen Spaziergängen, Einkäufen, Besuchen bei Freunden, Gottesdiensten, usw.
Im Irak scheint ausserhalb der Flüchtlingslager das Leben seinen normalen Gang zu nehmen. Einzig die gestiegenen Preise überall, der angespannte Wohnungsmarkt, die überfüllten Städte, die Checkpoints und die besorgniserregenden Nachrichten erinnern die Menschen ständig an die Bedrohung durch den IS, der je nach Ort nur 10 bis 40 Kilometer entfernt ist.
Was sind die Hoffnungen und was die Ängste der Menschen vor Ort?
Viele Flüchtlinge leiden immer noch unter ihren traumatischen Erlebnissen vor und während der Flucht. Und jetzt kommen noch die gedrängten Verhältnisse in den Flüchtlingsunterkünften und die manchmal sehr angespannte Versorgungslage hinzu. Ausserdem ist auch jetzt noch in den Lagern die Angst vor einem weiteren Vordringen des radikalen IS überall real, zumal er immer mehr Nachschub von Waffen und Menschen zu bekommen scheint. Im Sommer 2014 hatten die Menschen im Irak noch die Hoffnung, schnell wieder in ihre Heimat um Mossul zurückkehren zu können. Aber inzwischen sind sie ernüchtert und sehr enttäuscht von der internationalen Gemeinschaft, die ihrer Meinung nach zu wenig unternimmt, um den IS ernsthaft zu bekämpfen.
Je länger sie warten müssen, desto mehr schwindet die Hoffnung auf Rückkehr. Inzwischen glauben immer weniger daran, dass sie bald zurückkehren können und viele wollen nur noch weg in den Westen.
Gegenwärtig konzentriert sich alle Hoffnung der Flüchtlinge darauf, dass durch vereinte militärische Anstrengung der Peschmerga und der irakisch-schiitischen Armee der IS entscheidend zurückgedrängt werden kann. Doch eine Rückkehr in die Heimat von Mossul können sich viele nur vorstellen, wenn dafür auch eine internationale Schutztruppe bereitgestellt wird, weil das einheimische Militär sie oftmals im Stich gelassen hat.
Man hört davon, dass in Flüchtlingslagern Menschen Christus finden. Geschieht das auch in den Gebieten, die Sie besucht haben?
Ja, das stimmt, viele Menschen sind durch ihre grosse Not geistlich auf der Suche nach einem Halt. Auch viele Muslime bekommen durch die offensichtliche Barbarei des IS im Namen des Islam eine grosse Abscheu von ihrem eigenen Glauben. Ich habe selbst einige Jesiden, Kurden und Araber getroffen, die als Flüchtlinge nun zu Christus gefunden haben.
Vor kurzem war zu vernehmen, dass koptische Christen dem IS vergeben haben. Wie gehen Christen, die Sie getroffen haben, damit um?
Das waren nicht selbst betroffene Kopten. Von der Ferne und für Menschen, die den IS nie richtig selbst erlebt haben, ist das einfach. Aber für die betroffenen Menschen, die unter dem IS selbst gelitten haben und Familienangehörige und Freunde verloren haben, die tun sich sehr schwer und für sie war diese vorschnelle Vergebung der Kopten eher befremdlich, wie sie mir berichteten. Viele sind tatsächlich noch schwer traumatisiert und es braucht einen Versöhnungs- und Vergebungsprozess...
Sie sind für die HMK vor Ort – welcher Unterschied können die Hilfswerke machen?
Wir geben den notleidenden Menschen in Syrien und im Irak – unabhängig ihrer Herkunft und Religion – Hoffnung. Die Not ist immens und die grossen Flüchtlingsorganisationen wie die UNO und das Rote Kreuz können längst nicht alles abdecken. Zusammen mit unseren einheimischen Partnern haben wir auch Zugang zu denen, die keine Hilfe bekommen, weil sie abgelegen untergebracht sind. Vor allem wollen wir den Christen Mut machen, in ihrer Heimat «Licht und Salz» zu bleiben. Wir unterstützen sie, dass sie sich aktiv beim Aufbau und der Hilfe für ihr Land mitbeteiligen können. Viele unserer Partner bedanken sich: «Durch euch haben wir eine Aufgabe und die Mittel bekommen, selbst unseren Landsleuten zu helfen. Dies und unser Glaube halten uns im Land und geben uns Sinn. Danke.»
M. Schwab ist Nahost-Projektleiter der Hilfsorganisation «HMK Hilfe für Mensch und Kirche» mit Sitz in Thun. Er ist im Auftrag des Hilfswerkeverbands «Hoffnungsnetz» verantwortlich für die Koordination der Flüchtlingshilfe in Syrien und im Irak. Dank langjähriger einheimischer Projektpartner können regelmässig 40'000 Inlandflüchtlinge mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Decken versorgt werden. Die Notleidenden erhalten auch medizinische Betreuung, Zuflucht und Traumabewältigung.
Eine humanitäre Tragödie from HMK-AEM on Vimeo.
Zur Webseite:
HMK
Hoffnungsnetz
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Quelle: Livenet