Soziologe mit Südblick

„Die Welt ist voller Religion“

Soziologen schlagen sich damit herum, dass Religion anders als behauptet durch Säkularisierung keineswegs verschwindet. Im Gegenteil. Einer der prominenten Vertreter der Zunft, Peter L. Berger, forderte zur Eröffnung des Deutschen Soziologentags am 11. Oktober in Frankfurt, die Pfingstbewegung endlich als grosse transnationale Kraft zur Kenntnis zu nehmen.
Pfingstgemeinde von Florida, Uruguay - Ofelia lässt sich taufen.
Peter L. Berger.

„Säkular eingestellte Menschen fühlen sich angesichts der leidenschaftlich gelebten Formen religiösen Glaubens unbehaglich“, sagte Berger laut der ‚Frankfurter Rundschau‘ vor seiner Zunft. Sie neigten dazu, sie zu ignorieren oder zu pathologisieren. Doch sei die Pfingstbewegung unbestreitbar „die gegenwärtig am schnellsten wachsende religiöse Bewegung der Welt“; sie verursache in den Ländern des Südens „erhebliche soziale Umwälzungen“.

Was seit den Anfängen der Soziologie im wissenschaftsgläubigen 19. Jahrhundert zu bemerken ist, räumte Berger in seinem Vortrag in der Frankfurter Paulskirche selbstkritisch ein: „Im Allgemeinen tun sich Soziologen weiterhin schwer, die Religion aus sich selbst heraus zu verstehen.“ Doch Täuschung helfe nicht: „Wir leben bis auf wenige Ausnahmen in einer durch und durch religiösen Welt. Das nicht wahrhaben zu wollen, heisst, die Welt nicht zu sehen, wie sie ‚wirklich‘ ist.“

Scheuklappen-Theorie

Peter Berger gab zu, dass er selbst der sogenannten „Säkularisationstheorie“ der Nachkriegszeit aufgesessen war. Die Theorie behauptet, dass Modernisierung zum Niedergang der Religion führt. „Die Einsicht, dass ich damit falsch lag, hat mich mehr als ein Jahrzehnt gekostet.“ Er musste erkennen, namentlich bei Anhängern östlicher Religionen, dass ihre Spiritualität gar nicht gegen die Moderne gerichtet war. „Die meisten Menschen, die Yoga oder Kampfsportarten betreiben, die zu Bäumen sprechen und versuchen, mit ihrem wahren (spirituellen) Selbst bekannt zu werden, haben keinerlei Schwierigkeiten, sich in der modernen Welt zurechtzufinden.“ Mit Jimmy Carter im Weissen Haus seien auch in den USA die Evangelicals prominent geworden. Vorher, sagte Berger, habe auch er „nicht bemerkt, dass immerhin 60 Millionen Amerikaner zu dieser Religionsgemeinschaft gehören“.

Religion bewegt die Gesellschaften im Süden

In Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens mit grosser Armut erlebte Berger „massive Formen der Religiosität“. Was ihn faszinierte: „Dabei sind die Religionen oft die treibenden Kräfte für gesellschaftliche Entwicklungen. Die Schlussfolgerung lag also nahe: Die Idee, dass Modernität und Säkularisation (Verschwinden der Religion aus dem öffentlichen und auch privaten Leben; Red.) untrennbar miteinander verbunden sind, ist eine sehr europäische. Sie trifft nicht einmal auf die Vereinigten Staaten zu. Europa ist die Ausnahme.“

„Die Welt ist angefüllt mit Religion“, sagte Berger – und religiöse Bewegungen gingen über alle Grenzen hinaus. Auf der südlichen Halbkugel begegne man Göttern, sobald man aus klimatisierten Konferenzzentren hinaus auf die Strasse trete. Aber: „vor allem in Hinblick auf den islamischen Extremismus gibt es in den akademischen Milieus, aber auch in den Medien, die Neigung, ihn als religiöses Phänomen nicht ernst zu nehmen.“ Die Vorstellung, dass vor allem Armut zum Islamismus führe, wies Berger zurück. In der Türkei trage die Mittelschicht die herrschende AKP von Premier Erdogan. „Es sind auch die Kinder der säkularen kemalistischen (dem säkularen Staatskonzept von Kemal Atatürk verpflichteten; Red.) Elite, die jetzt aus den Umkleidekabinen kommen und sich für Bärte und Kopftücher begeistern.“

Nigerianer als Megachurch-Pastor in Kiew

Zum Dynamik der Pfingstbewegung brachte 81-jährige Soziologe Zahlen (weltweit 400 Millionen Anhänger laut Pew Research Center) und das Beispiel, dass ein Nigerianer in der ukrainischen Hauptstadt Kiew eine Megachurch mit einigen zehntausend weissen Ukrainern leite. Der Islam, analysiert Berger, habe sich „vor allem in den Gesellschaften verbreitet, die bereits muslimisch waren“. Die Pfingstbewegung erweise sich „als sehr viel globalere Bewegung, missioniert sie doch erfolgreich auch auf nicht-christlichem Terrain“.

Man könne kaum behaupten, „das Wiederaufleben des Islam wäre mit einer Modernisierung verbunden, so wie sie gerade von der Pfingstbewegung ausgeht“. Den Grund dafür sieht Berger in der verbreiteten Herabsetzung der Frauen im Islam. „Die Pfingstbewegung dagegen tendiert dazu, Frauen zu unterstützen, ganz besonders in Lateinamerika, wo sie den Kampf gegen Machomoral und patriarchale Familienstrukturen unterstützt.“

Glaube schwappt in den Norden zurück

Das Europa, aus dem Peter Berger stammt (1929 in Wien geboren), sieht er heute als Ausnahme: Der Theologe Rudolf Bultmann habe das Christentum durch Entmythologisierung des Neuen Testaments (Entfernung von allem Wunderglauben; Red.) Moderne-fähig machen wollen. „Er mag wohl recht haben, was die lutherischen Theologiestudenten in Tübingen oder Uppsala betrifft. Doch wenn sich Bultmann heute einmal in, sagen wir, afrikanischen Kirchen umschaute, dann fände er überall die ‚mythologische‘ Welt des Neuen Testaments vor. Dieser südliche Supernaturalismus schwappt zur Zeit wieder zurück in den Norden.“


 

Datum: 18.10.2010
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet / Frankfurter Rundschau

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