Meine Mutter Courage
Sollte ich meine Mutter mit einem knappen Begriff charakterisieren, fällt mir der Titel des Theaterstücks von Bertolt Brecht (1898–1956) ein: «Mutter Courage». Meine Mutter wurde 1913 geboren – und wer am Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland zur Welt kam, hatte schwere Zeiten vor sich. Nach dem Elend des 1. Weltkriegs verbrachte sie ihre Jugend mit ihren Geschwistern und meinen Großeltern im Rheinland. Dort bekam sie eine gehörige Portion rheinischen Frohsinns mit, der auch mir später zugutekam. Gegen Ende des 2. Weltkriegs fiel das Haus in Heilbronn – wo die Familie nun lebte – einem schweren Fliegerangriff zum Opfer, so dass sie mittellos zu Verwandten aufs Land zog. Dort lernte sie meinen Vater kennen – und wurde mit mir schwanger. Unehelich.
Ein Kandidat für die Abtreibung
Besonders mein preußisch gedrillter Großvater empfand das als Skandal. Nach heutigen Maßstäben wäre ich aus wirtschaftlichen, aber auch psychologischen Gründen ein Kandidat für eine Abtreibung gewesen! Aber meine Mutter hatte den Mut, mich auszutragen. Ich danke ihr für die Gabe des Lebens. Nach meiner Geburt durchlief sie eine tiefe innere Umkehr, durch die ihr anerzogener Glaube auch zu einer Herzenssache wurde. Als ich – noch ein Säugling – wegen Ernährungsproblemen todkrank wurde, legte sie ein Gelübde ab: meinen Vater – einen bekennenden Atheisten – nicht zu heiraten, falls ich überlebe. Sie war also bereit, den «Makel» einer alleinerziehenden Mutter mit der zusätzlichen Belastung eines Berufslebens auf sich zu nehmen.
Das tiefe Gefühl der Geborgenheit
Als Kleinkind kam ich tagsüber in eine Kinderkrippe. Hatte meine Mutter – sie war Telefonistin – Frühdienst, fuhr sie schon um 6 Uhr mit dem Fahrrad los; bei der Spätschicht brachte mich meine Oma oder die Tante zu Bett. Bei aller Unruhe der Nachkriegszeit erlebte ich doch das tiefe Gefühl der Geborgenheit.
Immer wurde mit mir ein Abendgebet gesprochen und «Der Mond ist aufgegangen» gesungen. In meiner gesamten Jugendzeit bestimmte die praktische, vom Pietismus geprägte Frömmigkeit unseren Alltag. Neben Gebeten in der Familie gehörten der sonntägliche Gottesdienst und die Gemeinschaftsstunde am Abend dazu.
Als ich meiner Mutter eröffnete, dass ich Theologie studieren und Pfarrer werden wolle, war sie freudig erstaunt und hat mich stets auf diesem Weg unterstützt. Auch im Ruhestand engagierte sie sich für die Familie und war mit größter Selbstverständlichkeit auch für die Enkel da. Besonders durch ihre treue Fürbitte hat sie die verschiedenen Stationen meines beruflichen Weges intensiv begleitet.
Jesu, geh voran auf der Lebensbahn
Was sie sich überhaupt nicht vorstellen konnte, war, jemals in ein Altersheim zu gehen. Als wir mit ihr bei einem «Tag der Offenen Tür» eine Altenwohnanlage besichtigten, fragte sie – als 90-Jährige! – mich erstaunt: «Rolf, willst du denn jetzt schon ins Altenheim gehen?»
Inzwischen ist sie 98 und leidet an einer schnell voranschreitenden Demenz. In der zunehmenden Nacht des Vergessens überrascht sie mich immer wieder mit Choralversen, die sie noch auswendig kann. Oft betet sie die Strophen ihres Lieblingsliedes «Jesu, geh voran auf der Lebensbahn …». Im Glauben und mit viel Mut geht sie die letzte Wegstrecke ihres irdischen Lebens – in der Erwartung der Heimat, die noch kommt. Ich habe ihr für alle Fürbitte, Liebe und Fürsorge unendlich zu danken.
Datum: 13.05.2012
Autor: Dr. Rolf Hille
Quelle: idea.de